Süddeutsche Zeitung

Umweltschutz:Bedrohung für die letzten Wildflüsse Europas

Die Staaten auf dem Balkan planen, 3000 kleine Wasserkraftwerke zu bauen. Die Projekte würden unvergleichliche Ökosysteme zerstören - und sind für die Energieversorgung der Länder weitgehend nutzlos.

Von Carolin Wahnbaeck

Als ihr Bach gestaut werden sollte, reichte es den "tapferen Frauen von Kruščica". Sie setzten sich auf die Brücke in ihrem bosnischen Dorf, hakten sich unter und bewachten den Fluss - 325 Tage lang, rund um die Uhr. Gegen eine ganze Hundertschaft von Polizisten, gegen deren wüste Beschimpfungen, gegen den Investor, gegen die Stadtverwaltung und gegen den Staudamm. Denn mit dem Kraftwerk würde ihr Bach verschwinden und damit das Wasser, das sie für ihre Felder, für ihr Vieh und ihr Leben brauchen. Mehr als zehn Monate dauerte es, dann lenkten Politiker und Baufirma schließlich ein: Der Bach bleibt erst einmal, wie er ist. Die Frauen aus Kruščica sind jetzt in ganz Bosnien bekannt - und mit ihnen die Gefährdung der Flüsse auf dem Balkan.

Das Kleinkraftwerk von Kruščica ist nur eines von etwa 3000 geplanten Wasserkraftwerken auf dem Balkan. Noch fließen in Bulgarien, Kroatien, Serbien oder Albanien die letzten Wildflüsse Europas - weder gedämmt noch begradigt. Wildflüsse wie die Vjosa: Frei windet sie sich 270 Kilometer vom griechischen Pindosgebirge durch Albanien bis zur Adria. Ein Strom, der seinen Verlauf ständig ändert, Sand- und Schotterbänke abträgt und anderswo wieder aufschüttet. Der seine Sedimente bis ins Meer trägt und damit die Strände vor Erosion schützt. Mit Aal und Meeräsche, die den Fluss 200 Kilometer hinauf- und hinabwandern. Mit Vogelarten wie Flussregenpfeifer, Seiden- und Silberreiher, die in seinen Auen und Überschwemmungsgebieten leben. Und mit Menschen, die den Fluss zum Leben brauchen. Doch dieser letzte große Wildfluss Europas ist bedroht: 38 Staudämme sind allein an der Vjosa und ihren Zuflüssen geplant.

Auf dem Balkan sind momentan 188 Kraftwerke im Bau und weitere 2798 sind geplant, zusätzlich zu 1000 bereits bestehenden Anlagen. Etwa die Hälfte der geplanten Dämme und Ableitungskraftwerke befindet sich sogar in Naturschutzgebieten. "Auf dem Balkan schlägt das blaue Herz Europas. Aber diesem Herz droht der Infarkt", sagt Ulrich Eichelmann von der Organisation Riverwatch.

Im Namen des Klimaschutzes soll die Wasserkraft "grünen Strom" liefern für die Balkanstaaten. Doch Wasserkraft zerstört die Fluss-Ökosysteme, deren Wasser zu Seen gestaut wird, während das Flussbett unterhalb der Dämme austrocknet. Das Wasser wird knapper und schlechter. Der Grundwasserspiegel flussabwärts senkt sich, Bäume und Büsche trocknen bei Dürren schneller aus.

Die Staudämme bedrohen Arten wie den Balkanluchs oder den Donaulachs

Die Staudämme bedrohen Arten wie den Balkanluchs. Süßwasserfische wie der Huchen, auch Donaulachs genannt, verlieren ihren letzten bedeutenden Lebensraum. Für eine Vielfalt an Süßwassermuscheln, -schnecken und Insekten schwinden ihre letzten Refugien. Weltweit sind die Süßwasserpopulationen seit den 1970er-Jahren um mehr als 80 Prozent geschrumpft. In Deutschland sind nur 6,6 Prozent der Flüsse in gutem Zustand - auf dem Balkan 80 Prozent. Mit den Staudämmen würde sich das ändern: 30 gefährdete Arten könnten aussterben, 69 endemische - also nur dort beheimatete - Fischarten würden bedroht.

"Wasserkraft ist nicht einmal klimafreundlich - im Gegenteil", sagt Eichelmann. Tatsächlich stoßen große Staudämme und ihre Reservoirs jährlich etwa 1,3 Prozent der globalen Treibhausgase aus, so eine Studie. Natürliche Flüsse und ihre Ökosysteme dagegen sind CO₂-Senken.

Trotz allem ist klar: Länder wie Albanien brauchen mehr Strom. Der soll möglichst erneuerbar sein, schließlich haben sich die Balkanstaaten verpflichtet, bis 2020 den Anteil grüner Energie auf 20 Prozent zu heben. Doch hinter dem Wasserkraftausbau steckt kein Energie-Masterplan. Schaut man genauer hin, werden die Dämme den benötigten Strom nicht liefern. 90 Prozent der geplanten Kraftwerke sind klein, mit einer Leistung von maximal zehn, oft sogar unter einem Megawatt. Heute liefern drei große Dämme Albaniens etwa 98 Prozent des Stroms - und rund 130 kleine Anlagen die restlichen zwei Prozent.

Dieses Verhältnis lässt sich auch auf den übrigen Balkan übertragen - und sogar auf Deutschland: 400 große Dämme liefern etwa 90 Prozent des Wasserkraftstroms, während 7300 kleine Kraftwerke nur zehn Prozent beitragen. Und die absolut produzierte Menge ist verschwindend gering: Zum gesamten Energiemix trägt Wasserkraft nur 0,8 Prozent bei, die kleineren Wasserkraftwerke also nur 0,08 Prozent. "Also praktisch nichts", bilanziert Eichelmann. "Aber dafür wurden unsere Flüsse 7300 Mal zerstört."

Was also treibt Wasserkraft wirklich an? Eichelmann hat eine klare Antwort: "Die Subventionen. Ohne die Förderung wären 90 Prozent der Anlagen schlicht unrentabel." Die Subventionen machten das Geschäft sehr rentabel - für Baufirmen, Banken und Energieunternehmen.

Welche Banken und Firmen hinter dem Staudamm-Boom stehen, listet ein neuer Bericht der Organisation Bankwatch detailliert auf. Finanzinstitute wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), die Europäische Investitionsbank (EIB) und die Weltbank seien die treibende Kraft. 727 Millionen Euro hätten diese Banken seit 2005 in 82 Wasserkraftwerke auf dem Balkan investiert, 37 davon in Schutzgebieten. Die EBRD ist Bankwatch zufolge der größte öffentliche Investor und finanziert direkt oder indirekt mindestens 61 neue Projekte, die Hälfte davon in geschützten Gebieten. Darauf angesprochen, verweist die EBRD auf ihre Umwelt- und Sozialrichtlinien und verspricht, Bericht und Projekte auf dem Balkan auf die diese Umweltstandards hin zu überprüfen.

Zwar gibt es zahlreiche Gesetze zum Schutz der Nationalparks, doch die werden oft umgangen

Auch die kommerziellen Banken lassen viel Geld in die Dämme fließen: An 158 neuen Projekten sind sie Bankwatch zufolge beteiligt, ein Drittel davon in Schutzgebieten. Die beiden größten Investoren: die österreichische Erste und Steiermärkische Bank und die italienische Unicredit. Auch die Deutsche Bank finanziert Wasserkraftwerke auf dem Balkan. Das widerspricht oft den eigenen Öko-Verpflichtungen: Die Unicredit etwa hat mehrere Wasserschutz- und Dammbau-Richtlinien unterschrieben und verspricht, sich aus Naturschutzgebieten herauszuhalten. Tatsächlich finanziert die Bank sechs Staudämme in solchen Gebieten. "Wir kommentieren einzelne Projekte nicht", schreibt die Unicredit dazu auf Anfrage.

Unter den Energieunternehmen ist die österreichische Kelag - mit RWE als größtem Anteilseigner - einer der Hauptinvestoren: Sie betreibt, baut oder plant etwa 18 Kraftwerke auf dem Balkan. Allein sieben Anlagen sind in dem kosovarischen Nationalpark Bjeshkët e Nemuna geplant. Doch dies seien nur "Projektideen in einem sehr frühen Stadium, mehr nicht", sagt Kelag-Sprecher Josef Stocker. In geschützten Gebieten sei "es gar nicht möglich, eine Genehmigung für ein Kraftwerk zu erhalten." Warum die Kelag aber Wasserkraftwerke im Nationalpark plant, bleibt unklar. Stocker betont: "Wir halten uns stets an die geltenden Gesetze und Vorschriften."

Doch die geltenden Umweltschutzgesetze werden meist nicht konsequent genug umgesetzt. "Korruption ist weit verbreitet", sagt Eichelmann. Baufirmen und Politiker seien oft bestens vernetzt. Nur so sei es möglich, dass so viele Anlagen mitten in Schutzgebieten entstehen. Dass Konzessionen an Günstlinge vergeben werden und oft genug auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft würden, während die lokale Bevölkerung in den meisten Fällen weder informiert noch beteiligt sei.

Trotzdem besteht Hoffnung für Europas letzte Wildflüsse. So überarbeiten die Banken EBRD und EIB ihre Umwelt- und Sozialstandards dieses Jahr, die EIB will Richtlinien für Wasserkraftfinanzierung aufsetzen. "Das ist eine große Chance, um die Regeln zu straffen und die Finanzierung von Wasserkraft in sensiblen Gebieten auszuschließen", sagt Pippa Gallop, eine der Autorinnen der Bankwatch-Studie. Auch auf europäischer Ebene setzt sich langsam die Einsicht durch, die Subventionen für Wasserkraft zurückzufahren.

Dafür kämpft auch die Outdoor-Firma Patagonia. Seit vier Jahren engagiert sich das US-Unternehmen für den Schutz von Flüssen, kämpft gegen neue und alte Dämme. Die Firma um Gründer Yvon Chouinard fördert Aktivisten und NGOs vor Ort, hat einen Film gedreht und eine Petition gestartet. Jeder kann mit seiner Unterschrift Banken wie die EBRD auffordern, den Staudämmen den Hahn abzudrehen.

Derweil greifen die Umweltschützer zu weiteren Mitteln: Riverwatch klagt immer wieder gegen rechtswidrige Projekte. Mit Erfolg: An der Vjosa steht die begonnene Dammbaustelle seit Jahren still. Zudem kämpfen die NGOs für Europas ersten Wildfluss-Nationalpark an der Vjosa. Die Bevölkerung soll über Einnahmen aus dem Tourismus profitieren.

Eine weitere Lösung für den Balkan: Energie sparen. Heizsysteme und fehlende Gebäudedämmungen verschwenden Unmengen Energie, dazu gingen allein in den Netzen 30 bis 40 Prozent der Energie verloren, sagt Eichelmann. Und die Zukunft liegt in Wind und Sonne: Albanien etwa hat über 300 Sonnentage im Jahr. Und bislang nur ein einziges kleines Solarkraftwerk.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3967187
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.05.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.