Max-Planck-Gesellschaft:Euthanasie und andere Abscheulichkeiten

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Das sei keine wissenschaftliche Kontroverse, widerspricht Doris Kaufmann. Rüdin habe die "Euthanasie" befürwortet und vorangetrieben, das sei längst durch Quellen belegt. So unterzeichnete Rüdin eine Denkschrift, in der er mit führenden "Euthanasie"-Befürwortern die Tötung von Patienten forderte.

Darüberhinaus hält Weber besonders abscheuliche Arbeiten von Julius Deussen an der Universität Heidelberg von seinem MPI fern. Deussen hat 52 geistig behinderte Kinder untersucht und einige dann persönlich in die Nähe von Wiesbaden gebracht, wo sie eine Überdosis Schlafmittel bekamen. Die Gehirne mancher Kinder nahm er zu Forschungszwecken mit zurück nach Heidelberg. Weber nennt Deussen "einen früheren Mitarbeiter" Rüdins; dieser habe Deussens Forschung lediglich "wohlwollend gegenüber" gestanden.

Tatsächlich aber habe Rüdin Deussens Verbrechen initiiert, gefördert und bezahlt, sagt der Gießener Medizinhistoriker Volker Roelcke. So existiert ein Schreiben Rüdins vom Oktober 1942 an den Reichsforschungsrat, in dem er auf einer Liste von Projekten, die er "als besonders dringlich erforscht sehen möchte", das Projekt skizziert, das Deussen dann ein Jahr später ausführt. Auch hat er Deussens Forschungen aus dem DFA-Etat mitfinanziert. Zudem sei Deussen, anders als Weber es darstellt, bis 1945 Mitarbeiter der DFA gewesen, wie ein Kündigungsschreiben vom August 1945 zeige. "Diese Fakten negiert Weber seit Jahren", beklagt Roelcke. "Und für seine Sicht hat er nie Quellen vorgelegt."

Weber entgegnet, diese Details änderten nichts an der Gesamtbeurteilung von Rüdin, auf den er als Erster mit dem Finger gezeigt habe: "Damals wurde ich auf Kongressen von älteren Kollegen als subversives Element beschimpft." Auch habe er die Akten über Rüdin gerettet, als diese Anfang der 1990er-Jahre beinahe vernichtet worden wären.

Doch der Fall Deussen bringe eine neue Dimension in die NS-Verbrechen der Wissenschaft, sagt Carola Sachse von der Uni Wien und Projektleiterin der Präsidentenkommission. Viele Forscher hätten menschliche Präparate aus Konzentrationslagern genutzt. "Deussen aber hat die Kinder selbst in den Tod geführt, das war Beihilfe zum Mord."

Diese Verbrechen vom KWI/MPI für Psychiatrie fernzuhalten und Rüdins Verfehlungen zu bagatellisieren, sei "Geschichtsklitterung", schimpft Wolfgang Eckart. "Das ist eine eklatante Falschdarstellung an der Grenze zum wissenschaftlichen Fehlverhalten." Wie Eckart stimmen ausgewiesene NS-Experten der Darstellung Roelckes zu. "Die Quellen sind eindeutig. Es geht nicht nur um Mitwisserschaft, sondern um Mittäterschaft", sagt Florian Schmaltz. Selbst der Herausgeber Reinhard Rürup stimmt ein: "Roelcke hat in der Sache Recht." Er habe aber "nicht mehr tun können, als den Autor auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen."

Für Moritz Epple fügen sich die "Denkorte" in einen breiteren Trend. "Man will vor allem wieder an die große Vergangenheit des eigenen Gebietes anknüpfen", sagt er. Auch in der Zeitschrift Max Planck Forschung würden unter der Rubrik "Rückblende" immer wieder wissenschaftshistorische Beiträge erscheinen, so Florian Schmaltz, die einzelne MPIs und deren Vorläufer in der KWG behandeln. "Die NS-Vergangenheit wird dabei zumeist einfach ausgeblendet."

Im Heft 03/2009 etwa widmet sich die "Rückblende" dem KWI und späteren MPI für Arbeitsphysiologie. Launig beschreibt die Autorin, wie Probanden dort vor dem Krieg für die Forschung besoffen Fahrrad fuhren. Nach dem Krieg sei unter anderem der Energieverbrauch von Hausfrauen ermittelt worden. Kein Wort aber von dem Großversuch an fast 7000 unterernährten Zwangsarbeitern in den Jahren dazwischen. Ziel war es, die Lebensmittelrationen gerade so zu bemessen, dass aus den Zwangsarbeitern bei möglichst wenig Nahrung möglichst viel Arbeitsleistung herauszuholen war. Auch Menschenversuche mit dem Psychopharmakon Pervitin werden in der "Rückblende" ausgeblendet.

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