Materialforschung:Warten auf den Wunderstoff

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Wie Hasendraht sieht die Atomstruktur von Graphen aus. Von diesem ultradünnen Kohlenstoff-Gewebe versprechen sich Materialforscher die erstaunlichsten Möglichkeiten. (Foto: Pasieska/SPL/Agentur Focus)

Die Entdeckung des Graphens, eine Kohlenstoffstruktur, wurde mit dem Nobelpreis geadelt. Das Material soll biegbare Handys und superleichte Flugzeugteile ermöglichen. Doch bislang ist das Vorzeigeprojekt: ein Tennisschläger.

Von Alexander Stirn

Es ist ein ewiger Kampf zwischen dem Stolz der Briten und ihrem berühmten Hang zur Untertreibung. Die Erbauer des Nationalen Graphen-Instituts in Manchester haben sich für den Stolz entschieden: "Heimat des Graphen" prangt an jeder der unzähligen Türen des Neubaus. Hinter einer durchlöcherten Metallfassade wollen Physiker einem hochgelobten Wundermaterial namens Graphen die letzten Geheimnisse entreißen. All den enormen Erwartungen zum Trotz ist Graphen (mit Betonung auf der zweiten Silbe) noch nicht im Alltag angekommen.

Zu Beginn klang das ganz anders: Seit seiner Entdeckung im Jahr 2004 wird das Material als wahrer Wunderstoff gefeiert. Das aus einer einzigen Lage verwobener Kohlenstoffatome bestehende Graphen soll Medizin und Materialforschung revolutionieren. Es soll biegbare Handys ebenso möglich machen wie ultraschnelle Transistoren, winzige Bioroboter und superleichte Flugzeugrümpfe. Die Realität hinkt diesen Prophezeiungen hinterher: Aktuelles Vorzeigeprodukt der Graphen-Forschung ist ein stabiler Tennisschläger.

Mit viel Geld und viel Aufwand, einem europaweiten, Hunderte Millionen Euro teuren "Flaggschiffprojekt" und Forschungseinrichtungen wie dem Nationalen Graphen-Institut NGI soll der Stoff zu einem kommerziellen Erfolg werden. Derweil hat sich die Wissenschaft längst anderen, ähnlichen Materialien zugewandt - die vergleichbare Wunder versprechen.

Es passiert selten, dass zwischen der Entdeckung eines neuen Materials und dessen Krönung durch den Nobelpreis wenig Zeit vergeht. Beim Graphen waren es gerade einmal sechs Jahre. Unwillkürlich hat das Nobel-Komitee damit seinen Teil zum Graphen-Hype beigetragen. Die Physik-Jury, eigentlich ein Hort der Zurückhaltung, ließ sich bei der offiziellen Bekanntgabe des Nobelpreises im Jahr 2010 zu einer wahren Jubelorgie hinreißen. Seitenweise listeten die Stockholmer Experten verheißungsvolle Anwendungen auf und priesen Graphen als Material mit "einzigartigen Eigenschaften", als dünnsten und leichtesten Stoff aller Zeiten, als Substanz mit der besten Wärmeleitfähigkeit, als unheimlich dicht und transparent.

Physik-Nobelpreis 2010
:Kohlenstoff in zwei Dimensionen

Der Nobelpreis für Physik geht an Andre Geim und Konstantin Novoselov für ihre "bahnbrechenden Experimente" mit Graphen. Geim ist schon Träger des "Anti-Nobel"-Preises für sein "Fliegender-Frosch"-Experiment und das unglaubliche Video dazu.

"Bereits 2009 habe ich aufgehört, all diese Superlative aufzulisten", sagt Andre Geim und lacht. Gemeinsam mit seinem damaligen Doktoranden und späteren Mit-Nobelpreisträger Konstantin Novoselov hatte der gebürtige Russe 2004 Graphen entdeckt. Zwar wussten Physiker bereits seit den 1960er-Jahren, dass Kohlenstoff nicht nur als Diamant oder Grafit existieren muss, sondern auch als einlagige Variante - sie konnten das Material allerdings nicht in reiner Form herstellen.

Nach jahrelanger Suche isolierten die Forscher das Graphen ganz banal: mit Tesafilm

Geim und Novoselov gelang das - mit einem Trick, der seinen Teil zum Graphen-Mythos beigetragen hat: Während ihrer jahrelangen Suche an der Universität Manchester nahmen die Forscher irgendwann ein Grafit-Stück, wie es in Bleistiften steckt. Sie klebten Tesafilm darauf, zogen das Klebeband ab und wiederholten den Prozess so lange, bis eine einzige Atomlage übrig blieb. Unter dem Mikroskop wurde klar, dass diese aus sechseckig verbundenen Kohlenstoffatomen bestand, wie bei einem Hasendraht. Geim und Novoselov hatten Graphen isoliert. Der Tesafilm-Spender steht heute im Technikmuseum von Manchester - neben Dampfmaschinen und Webstühlen.

Mehrere atomare Graphenschichten müssten sich mit Spezialharzen wie ein viellagiges Sandwich zu flexiblen und gleichzeitig superstabilen Matten verarbeiten lassen. Eine industrielle Revolution auf der Basis von Graphen ist jedoch nicht in Sicht. Geim fordert Geduld. "Typischerweise vergehen 30 oder 40 Jahre, bevor eine Idee aus dem Labor in die Werkshallen vordringt. Beim Aluminium dauerte es sogar 70 Jahre, bis Menschen etwas Sinnvolles damit anfangen konnten", sagt der Physiker beim Euroscience Open Forum (Esof) Ende Juli in Manchester. Verglichen damit komme Graphen rasch voran, so Geim. "Wir sehen bereits überraschend viele spontane Anwendungen."

Meist wird der Wunderstoff mit einem bewährten Material kombiniert. So wie beim Tennisschläger, in dessen Schaft sich angeblich einige Prozent Graphen befinden, was das Sportgerät fester und leichter machen soll. Die Liste lässt sich fortführen: Wandfarbe könnte dank Graphen haltbarer werden, Batterien leistungsfähiger, Autoreifen langlebiger.

Gemeinsam mit der University of Central Lancashire (Uclan) hat die Universität Manchester, die hinter dem NGI steckt, zudem die erste Graphen-Drohne entwickelt. Mitte Juli absolvierte die unbemannte Flugmaschine auf der Luftfahrtmesse im britischen Farnborough ihren Erstflug. In der Luft gehalten wird sie von Tragflächen aus einem Graphen-Verbundmaterial. Im Gegensatz zu handelsüblichen Kohlefasermatten, die in vier Lagen aufgebracht werden müssen, reicht beim Graphen eine Schicht. Trotzdem sind die Flügel 60 Prozent widerstandsfähiger gegenüber Einschlägen. "Seit unsere Drohne diese Tragflächen hat, fliegt sie viel schneller und besser - auch wenn wir noch nicht wissen warum", sagt Uclan-Ingenieur Billy Beggs.

In großen Passagierflugzeugen könnte Graphen die Zahl der Matten, aus denen zum Beispiel der Rumpf gebaut wird, von sieben auf vier reduzieren, sagt Beggs. Das würde bei einem Airbus A380 zwölf Tonnen Gewicht sparen. Zudem ließen sich Antennen auf die Tragflächen drucken, da Graphen leitfähig gemacht werden kann. "Im Flugzeugbau hat der Stoff großes Potenzial", sagt der Luftfahrtingenieur.

Konstantin Novoselov ist von all dem nicht überzeugt. "Dank seiner vielen Superlative kann Graphen andere Stoffe natürlich leicht ersetzen", sagt der Mitentdecker. "Viel wichtiger wären aber komplett neue Anwendungen, die ohne Graphen keine Chance hätten." Novoselov denkt an Kontaktlinsen, die sich ausschalten lassen und ihre Stärke verändern, oder an Graphen-Membranen, aus denen sich Sensoren im Gehirn genauso herstellen lassen wie künstliche Organe.

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Auch im Nationalen Graphen-Institut, dem 75 Millionen Euro teuren Neubau in Manchester, sind solche Ideen ein Thema. In den kommenden Monaten soll ein Anwendungszentrum eröffnet werden, sagt Geschäftsführer James Baker. Doch auch er warnt vor überzogenen Erwartungen: "Wir arbeiten noch immer an den Grundlagen, Graphen ist allenfalls ein Teenager."

Bald soll es gelingen, Materialien mit neuen Eigenschaften je nach Belieben zusammenzubasteln

Seine Pubertät muss der Wunderstoff noch durchstehen, ohne seine beiden Erzeuger. "Ich habe meinen Nobelpreis für Physik bekommen, nicht fürs Geschäft", sagt Andre Geim. "Aus wissenschaftlicher Sicht ist Graphen mehr oder weniger durch, nun liegt das Material in den Händen der Industrie." Das wissenschaftliche Interesse verschiebt sich. Es gilt nun - wie Geim es nennt - den "Brüdern und Schwestern" des Graphen: einer Materialklasse, die Physiker 2-D-Materialien nennen.

Ein Stoff namens Bornitrid ist deren bekanntester Vertreter. Bor- und Stickstoffatome nehmen dabei die Position des Kohlenstoffs im Graphen ein. Sie bilden eine wabenförmige Schicht, die ebenfalls nur eine Atomlage dick ist. Silicen, bei dem Siliziumatome an den Ecken der Sechsecke sitzen, stellt eine weitere Alternative dar. Während hexagonales Bornitrid ein ausgezeichneter Isolator ist, lässt sich beim Silicen der Stromfluss ein- und ausschalten - ähnlich einem Halbleiter. Das eröffnet neue Perspektiven, zum Beispiel für den Bau von Computerprozessoren.

"Nur dünn zu sein, reicht bei einem 2-D-Material nicht mehr. Wir müssen auch die passenden Atome wählen", sagt Geim. "Gelingt das, lassen sich mit den neuen Stoffen so gut wie alle industriellen Probleme lösen." Das klingt gut, aber es ist bislang nicht mehr als ein weiteres Versprechen.

Geim und Novoselov selbst haben sich schon wieder anders orientiert. "Graphen 3.0" nennen die beiden Physiker ihr aktuelles Forschungsgebiet, dem eine eigene Abteilung im neuen Institut gewidmet ist. Die Idee: Statt auf einlagige Schichten aus einem einzigen Material zu vertrauen, sollen mehrere Lagen aus unterschiedlichen Stoffen übereinandergestapelt werden. Die Forscher hoffen, sich dadurch wie mit einem Baukasten neuartige Materialien mit speziellen physikalischen Eigenschaften zusammenstöpseln zu können - Atom für Atom und Schicht für Schicht. Sechs Atomlagen, geschickt kombiniert, ergeben im Labor zum Beispiel einen hervorragenden Transistor. "Es klingt unglaublich, aber wir können auf diese Weise tatsächlich neue Materialien basteln", sagt Konstantin Novoselov. "In ein paar Jahren wird so etwas massenhaft eingesetzt." Das riecht schon wieder nach einem Wunder.

Im schicken Nationalen Graphen-Institut an der Booth Street treibt die Manager derweil eine andere, nicht ganz so existenzielle Frage um. Das Gebäude hat noch keinen Namen. Da bei den Bauarbeiten die Fundamente eines Klubs gefunden wurden, den Friedrich Engels einst frequentierte, sei der Name des Revolutionärs und Wirtschaftsphilosophen im Gespräch gewesen, sagt Novoselov.

Auf Engels sind sie in Manchester zwar auch irgendwie stolz. Die "Heimat des Graphen", die den kommerziellen Durchbruch des neuen Stoffes bringen soll, nach einem Klassenkämpfer zu benennen, ist dann aber doch verworfen worden - egal, wie revolutionär das angebliche Wundermaterial auch sein mag.

© SZ vom 19.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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