Kleinkinder interpretieren Bilder besser als jeder Computer. Einen "Mann mit Bart und Hut" entdecken schon Zweijährige zuverlässig auf einem Foto. Für Computer ist das eine gewaltige Herausforderung. Schließlich verfügen sie über keine körperliche Erfahrung, wie ein Hut aussieht oder ein Bart kratzt. Noch schwieriger wird es für Maschinen, wenn Merkmale in einem menschlichen Gesicht nicht nur erkannt, sondern auch interpretiert werden sollen: Schaut die Frau aggressiv oder friedlich? Kann man ihr vertrauen?
Diese Kunst, das Gegenüber auf den ersten Blick einzuschätzen, haben Informatiker nun erfolgreich einem Algorithmus beigebracht. Ein Team um Mel McCurrie von der amerikanischen Universität Notre Dame hat eine Software geschrieben. Sie bewertet die Vertrauenswürdigkeit von Personen auf einem Foto, ihr Alter, den Intelligenzquotienten und wie dominant jemand wirkt.
Bislang scheiterte diese Art maschineller Menschenkenntnis schon daran, weil unklar ist, wie Menschen zu Urteilen über andere kommen. Ob jemand als aufrichtig erscheint oder nicht, hängt von subtilen Zeichen ab - der Mimik, der Blickrichtung der Augen, der Haltung des Kopfes. Auch Psychologen können dazu nur mutmaßen. Wie sollte man diese kaum in Worte zu fassenden Folgerungen einem Computer beibringen?
Um dieses Problem zu umgehen, nutzten die Forscher das Urteil Hunderter menschlicher Probanden als Basis. Sie zeigten Besuchern der Website testmybrain.org 6000 Fotos von fremden Personen - die Probanden bewerteten die Bilder danach, wie alt, intelligent, dominant oder vertrauenswürdig die Personen ihnen erschienen. Mit der so gewonnenen Weisheit der Masse trainierten die Informatiker ein neuronales Netzwerk, also eine Software, die dem netzartigen Bauplan des Gehirns ähnelt. Die Maschine lernte, zu einem ähnlichen ersten Eindruck von Fremden zu kommen wie auch Betrachter - ohne zu wissen, wie dieser Eindruck zustande kommt. Nun kann der Algorithmus auch neue Fotos bewerten.
Neuronale Netze können auch Baustellen erkennen oder Bücher bewerten
Derartige tiefe neuronale Netze lassen sich vielfältig nutzen. So hat ein ähnlicher Algorithmus nach der Aufarbeitung von 140 000 Bildern der Plattform Amazon gelernt, Bücher anhand ihres Covers in das richtige Genre einzuordnen. Ein Team der TU München bringt gerade einer Autosoftware bei, Baustellen auf der Straße zu erkennen. Dafür analysiert das System unzählige Verkehrssituationen und erschließt sich daraus selbst die Merkmale, die auf eine Baustelle hinweisen, wie etwa spitze Hütchen oder gelbe Markierungen.
Der Vertrauens-Algorithmus ist bislang Grundlagenforschung. Die US-Informatiker zeigen aber mögliche Anwendungen: So überprüften sie die Software mit Fotos des Wikileaks-Chefs Julian Assange, des Whistleblowers Edward Snowden sowie der beiden Schauspieler, welche die Aktivisten in Filmen verkörpern. Der Algorithmus schätzte für beide Paare Vertrauenswürdigkeit, IQ, Alter und Dominanz fast identisch ein. Die Filmemacher hatten also aus Computersicht die Rollen gut besetzt. Warum nicht künftig den passenden Schauspieler per Algorithmus finden? Oder die Wirkung eines Politikers auf einem Wahlplakat mit dem Rechner bestimmen?