Mindestens zehntausend Jahre lang lag die gewaltige Eisschicht vor der Küste der Antarktis im Wasser. Es passierte nicht viel - bis Regen und Schmelzwasser begannen, Teiche an der Oberfläche jener Schicht zu bilden, die Forscher Larsen B nennen. Von dort arbeitete sich das Wasser in die Tiefe, Tropfen für Tropfen. Ein Teich floss ab, andere folgten. Schließlich brach innerhalb von zwei Wochen ein Eisblock ab, groß wie das Saarland, hoch wie ein Wolkenkratzer. Womöglich war dieser enorme Kollaps aber erst der Anfang. Denn es gibt immer mehr Anzeichen, dass die Antarktis weniger stabil ist als bisher angenommen - was langfristig zu einem enormen Meeresspiegelanstieg führen könnte.
Vor ein paar Wochen veröffentlichten die US-Wissenschaftler Robert DeConto und David Pollard im Fachmagazin Nature eine Studie, die nichts Gutes für Küstenbewohner verheißt. Die beiden Forscher versuchen seit Langem, den größten Unsicherheitsfaktor aller Prognosen für den Meeresspiegelanstieg in den Griff zu bekommen: das Eis der Antarktis. Ihr Modell gilt als eines der besten weltweit.
Trotzdem funktionierte es lange nicht recht. Wenn DeConto und Pollard damit vergangene Wärmeperioden durchrechneten, unterschätzte es die damaligen Wasserstände, die geologisch belegt sind. Das änderte sich erst, als die Wissenschaftler zwei neue Faktoren berücksichtigten: Schmelzwasser, das sich durch wärmere Luft und Regen bildet, sowie hohe Eisklippen, die beim Schmelzen entstehen und unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Beide Prozesse könnten die Stabilität des Eises gefährden. So sehr, dass sich das Schmelzen verselbständigen kann. Unter Berücksichtigung dieser Mechanismen konnte das Modell dann einigermaßen verlässliche Werte für frühere Eisschmelzen liefern. Und es sagt besorgniserregende Dinge über die Zukunft aus: Wenn die Treibhausgas-Emissionen weiter zunehmen, könnte der Meeresspiegel bis 2500 um 15 Meter ansteigen - allein durch die Eisschmelze in der Antarktis. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts wäre davon schon mehr als ein Meter erreicht. Zusammen mit den Beiträgen Grönlands, der Gebirgsgletscher und der thermischen Ausdehnung des Ozeans könnten es sogar fast zwei Meter werden.
Millionen Menschen könnten ihre Heimat verlieren, sollte ein bestimmtes Szenario eintreten
Ein solcher Anstieg würde nicht nur flache Inseln wie die Malediven im Meer versinken lassen, sondern auch Venedig und Teile von Floridas Küste, den Süden Bangladeschs und Vietnams. Miami wäre verloren, Ostfriesland kaum zu halten. Sollte dieses Szenario eintreten, verlieren schon in wenigen Jahrzehnten Millionen Menschen ihre Heimat.
Aber wie üblich bei Szenarien, können sie in Wahrheit früher eintreten, später oder gar nicht. Vielleicht bekommt die Menschheit ihre Emissionen bald in den Griff; dann sollte es nicht zu antarktischen Katastrophen kommen. Und selbst wenn ungemindert weiter Treibhausgase in die Luft gelangen, müssen die US-Forscher nicht zwangsläufig recht behalten. Allerdings deuten auch andere Ergebnisse darauf hin, dass aus der Antarktis bei einem ungebremsten Temperaturanstieg Übles drohen könnte. So lassen Satellitenbilder und Modellrechnungen vermuten, dass die Eisdecke auf der Amundsen-See vor der Küste der Westantarktis bereits begonnen hat, zusammenzubrechen; das wärmere Meerwasser schmilzt sie von unten an. Dabei sitzt das Amundsen-Eis wie ein Pfropfen vor den Gletschern. Wenn es wegfällt, können die Eismassen der gesamten Westantarktis ins Meer abfließen, und den Wasserspiegel um drei Meter erhöhen.
Das jedenfalls ergeben Modellrechnungen, die zwei Forscher vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung Ende vergangenen Jahres im Fachjournal PNAS veröffentlichten. Demnach ist der Kollaps der Westantarktis schon heute unaufhaltsam. Nur: Wann wird das geschehen - in 200, 500, 1000 Jahren? Wird in diesem Jahrhundert überhaupt schon etwas davon zu spüren sein? "Wir wissen jetzt, dass die Westantarktis begonnen hat, ihr Eis ins Meer zu entlassen. Was wir nicht wissen ist, wie schnell sich das weiter entwickelt", sagt Anders Levermann, einer der Autoren.
Und doch ist die Eismodellierung ein großes Stück vorangekommen, seit im Jahr 2013 der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC erschien; Levermann war auch damals einer der Autoren. In dem Bericht wird für den Meeresspiegel bis 2100 im schlimmsten Szenario ein Anstieg von - wahrscheinlich - gut einem halben Meter bis knapp einem Meter prognostiziert, nur wenige Zentimeter davon aus der Antarktis.