2011 wurde die Marmorierte Baumwanze erstmals in Deutschland gesichtet, das Tier kam über den Bau eines Chinagartens in Zürich nach Konstanz an den Bodensee. Die Wanze aus Ostasien verbreitet sich inzwischen munter in Europa. Mit ihrem Rüssel sticht sie in Gemüse und Obst, woraufhin die Früchte für den Handel unbrauchbar sind. Im Herbst fliegt das Insekt in die wärmeren Städte, auf Terrassen und in Wohnungen. Wird es bedroht, stößt es ein übel riechendes Sekret aus, weshalb es auch als Stinkwanze bekannt ist. Olaf Zimmermann, 50, arbeitet für das Landwirtschaftliche Technologiezentrum Augustenberg, das an die Landesregierung Baden-Württemberg angeschlossen ist. Der Biologe und Insektenkundler folgt den Spuren problematischer Einwanderer.
SZ: Herr Zimmermann, wie konnte sich das Tier so stark ausbreiten?
Olaf Zimmermann: So etwas wie diese Wanze hatte ich noch nie. Das sind Ausmaße, die uns überrollt haben. Als 2007 die Amerikaner Ernteausfälle im Apfelanbau von mehr als 37 Millionen Dollar meldeten, setzte die Europäische Union die Wanze auf die Liste mit Alarmstufe. Wird ein Exemplar dieser Arten gefunden, beginnen umfangreiche Maßnahmen zur Ausrottung. Nach fünf Jahren wurde die Baumwanze allerdings von der Liste genommen, weil man annahm, dass sie sich in Europa nicht so stark ausbreiten würde. Das war im Nachhinein ein Fehler.
Welche Auswirkungen beobachten Sie?
Die Südtiroler meldeten 2019 mehr als 500 Millionen Euro Schaden im Obst- und Gemüseanbau. Birnen und Haselnüsse könnten hier bald verschwinden, weil es sich nicht mehr lohnt anzubauen. In der Schweiz beklagten Landwirte 2019 einen Schaden von drei Millionen Schweizer Franken. In Deutschland hat sich die Wanze über den südlichen Rheingraben von Basel bis ins Ruhrgebiet ausgebreitet. Zuletzt haben wir Hunderte Meldungen aus dem Freiburger Raum erhalten, hier rechnen wir demnächst mit Ernteschäden auf Schweizer Niveau. Dazu gibt es Ansiedlungen in München und Augsburg oder in Berlin. In diesem Jahr sehen wir auch in Niedersachsen erste Einzelfunde.
Was kann man gegen diese Einwanderer unternehmen?
Wenn man nicht rechtzeitig Maßnahmen ergreift, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, Arten wieder auszurotten. Jetzt haben wir Hunderttausende Wanzen da draußen. Es gibt keine zugelassenen Pflanzenschutzmittel, die den Bestand wirkungsvoll dezimieren würden. Als saugendes Insekt nimmt die Wanze nur wenige Giftstoffe auf. Es bleibt dann beim Knockdown-Effekt: Die Wanze kippt um, krabbelt aber nach zwei Stunden wieder los. Deshalb gibt es Überlegungen, einen natürlichen Gegenspieler aus Asien nachzuholen. Die sogenannte Samurai-Wespe legt ihre Eier in die Eier der Wanze und tilgt so die Nachkommen. In Italien wurde die Samurai-Wespe nun per Dekret ausgesetzt, in Deutschland laufen dazu Gespräche mit den Behörden, wobei der Naturschutz der Einführung einer neuen Tierart durch den Menschen skeptisch begegnet. Forschungen weisen darauf hin, dass die Samurai-Wespe eine gute Option wäre, die Baumwanze einzuhegen. Zudem wurde die Samurai-Wespe von uns in diesem August erstmals in Deutschland gefunden, es kann also sein, dass die Natur das selbst regelt.
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Schuld an der Klimakatastrophe: Das hervorragend besetzte ARD-Drama "Ökozid" zeigt Deutschland im Jahr 2034 auf der Anklagebank. Unrealistisch? Von wegen.
Welche Insekten kommen als Nächstes?
Wir erwarten den Japan-Käfer, der ist im Raum Mailand schon nicht mehr eingrenzbar. Der Käfer kann einen Baum komplett entlauben oder im Pulk die Blüten eines Rosengartens vernichten. Das wird für Vorgärten und Parks zum Problem. Wenn man sieht, was der Japan-Käfer in Amerika anstellt, da muss man schon schlucken. Einzelne Exemplare wurden in Deutschland bereits gesichtet, noch konnte sich die Art nicht etablieren. Aber so fängt es an. Wie schnell es dann geht, lässt sich nicht genau vorhersagen. Aus dem Osten kommt der Asiatische Eschenprachtkäfer auf uns zu. Der war vor acht Jahren noch 250 Kilometer westlich von Moskau, jetzt ist er schon 500 Kilometer von Russlands Hauptstadt entfernt. In 20 Jahren ist er in Mitteleuropa und wird die Eschen befallen. Das sollte man bei Baumpflanzungen beachten, die Esche wird hier mittelfristig ein Problem bekommen. In den USA hat sich der Eschenprachtkäfer ausgebreitet, man kriegt ihn dort mit natürlichen Gegenspielern nicht in den Griff. Und Bäume kann man nicht mit chemischen Pflanzenschutzmitteln schützen.
Sind das Einzelfälle oder gerät da ein System ins Rutschen?
Wir haben durch Erderwärmung und globale Handelsströme eine ganze Menge neuer Arten in Europa. Die Dynamik nimmt seit den 2000er-Jahren erheblich zu. Buchsbaumzünsler 2006, Marmorierte Baumwanze 2011, Kirschessigfliege 2011, Bläulingszikade 2012 und so weiter. Früher überstanden diese Arten den Winter nicht, aber Temperaturen von minus zehn Grad und darunter gibt es kaum mehr. Ein Indikator war für mich die Grüne Reiswanze aus Afrika. Sie ist 1979 im Kölner Raum entdeckt worden, war aber lange ein Kuriosum in Deutschland. Seit Ende der 1990er-Jahre nimmt diese Art im Rheingraben massiv zu. Sie ist durch die milden Winter erst aktiviert worden. Auch heimische Schädlinge können sich besser vermehren. Es überleben etwa mehr Engerlinge des Junikäfers, aktuell frisst er am Rande des Schwarzwalds rund 1000 Hektar Weideland an. Das könnte zu Problemen beim Futtermittelanbau führen.
Ist der Südwesten besonders stark betroffen?
Der Rheingraben ist ein Hotspot der Tierarten-Einschleppung. Erstens kommen über den Fluss Frachtschiffe. Zudem verliert der Alpenkamm seine Funktion als Klimabarriere gegen Schädlinge aus Südeuropa. Weil die Berge weniger Eis tragen, ist eine Walnussfruchtfliege 2007 einfach drübergeflogen. Und die Burgundische Pforte ist die Einflugschneise aus Frankreich.
Wie reagiert die Landwirtschaft darauf?
Die steht unter Stress. Ein Kollege von mir war in Ihringen am Kaiserstuhl, einem der wärmsten Orte Deutschlands. In einem Betrieb für Strauchbeeren fand er Früchte mit Sonnenbrand, die Wanzen aus Asien und Afrika, die Kirschessigfliege, die Büffelzikade und eine Glasflügelzikade. Er zweifelt, ob hier künftig ein Anbau noch möglich sein wird.
Wie lautet Ihre Prognose für die Tierwelt der Zukunft?
Die gesamte Natur bewegt sich nach Norden, wir kratzen höchstens an der Oberfläche, weil wir nur die problematischen Arten verfolgen. Die aktuellen Daten des Klimawandels sind etwas schlechter als die schlimmsten Vorhersagen der Wissenschaft. Man muss irgendwann anfangen, das ernst zu nehmen. Wenn Sie mich fragen, was in den nächsten 20, 30, 40 Jahren passiert, muss ich antworten: Ich habe keine Ahnung. Da wird sich wahrscheinlich das Naturbild stark verändern.