ARD Fernsehdrama "Ökozid":Versagen ohne Ende

Lesezeit: 4 min

Die Anwältin Wiebke Kastager (Nina Kunzendorf) vertritt 31 Länder, die die Bundesrepublik Deutschland wegen ihrer Klimapolitik auf Schadensersatz verklagt haben. (Foto: rbb/zero one film/ Julia Terjung)

Schuld an der Klimakatastrophe: Das hervorragend besetzte ARD-Drama "Ökozid" zeigt Deutschland im Jahr 2034 auf der Anklagebank. Unrealistisch? Von wegen.

Von Alex Rühle

Ein apokalyptischer News-Mix: Sturmfluten in Bangladesch, Brände rings um Berlin, Äcker, die zu fahlen Staubhalden verdorrt sind. Solche Bilder kennt man heute schon aus den Tagesthemen. Und da kommt doch tatsächlich Ingo Zamperoni ins Bild, allerdings mit angegrautem Haar: "Die Entscheidung der Bundesregierung unter der damaligen Kanzlerschaft von Angela Merkel, den Kohleausstieg erst 2038 zu vollziehen, könnte Deutschland teuer zu stehen kommen." So beginnt er seine Moderation.

Wir sind im Jahr 2034. Deutschland wird von 31 Staaten des Südens vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt. In ihren Augen hat die Bundesrepublik nicht nur über Jahrzehnte die völkerrechtliche Pflicht verletzt, einer Erhöhung der CO₂-Konzentration entgegenzuwirken. Sie hat sogar im Gegenteil alle europäischen Klimaschutzvorgaben nach Kräften aufgeweicht und blockiert. Als Gerichtsgebäude dient ein Provisorium in Berlin, der Sitz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag musste nach der dritten Sturmflut in Folge geräumt werden. Auf der Anklagebank sitzt nun die BRD der Jahre 1990 bis 2020, verkörpert durch die 80-jährige Angela Merkel. Der Mitangeklagte Gerhard Schröder lässt sich entschuldigen, er weilt in Russland zur Kur. Das ist ein wenig kühler Humor in diesem auf leise Art spektakulären Gerichtsdrama, das zur besten Sendezeit den Höhepunkt der ARD-Themenwoche "Wie Leben" bildet.

Am vergangenen Sonntag twitterte Greta Thunberg: "Die mächtigsten Aktivisten unserer Tage sind die, die den Status quo unterstützen, durch den echte und sinnvolle Klimapolitik vermieden wird. Der Kampf darum, das business as usual am Laufen zu halten, ist wahrscheinlich die erfolgreichste Bewegung aller Zeiten." Im Grunde ist Ökozid ein Beleg für Thunbergs Behauptung. Andres Veiel, der für seine minutiös recherchierten Dokumentarfilme berühmt wurde ( Blackbox BRD, Die Spielwütigen), hat hier das Genre gewechselt und einen in der Zukunft verorteten Spielfilm gedreht.

Dabei ging es ihm nicht um Science-Fiction, die Zukunft ist hier der nahe Spiegel, der uns die Konsequenzen unseres heutigen Handelns in Frageform sichtbar macht: Was werden wir alles falsch gemacht haben? Ab wann und wodurch werden wir schuldig geworden sein?

Es gibt eine Rahmenhandlung. Ein fieser Spin-Doktor fälscht während des Prozesses Audio-Files und macht mit seinen perfekten Fake News in den sozialen Medien Stimmung. Zwei alte Liebesgeschichten werden skizziert. Ein grundsätzlicher Konflikt zwischen den beiden Anwältinnen der Klägerseite droht permanent zu eskalieren: Nina Kunzendorf spielt die besonnen erfahrene Juristin, die überzeugt ist, dass man um des Erfolgs willen auch mal in Grauzonen gehen muss. Friederike Becht gibt die junge Idealistin, für die jeder Kompromiss Verrat wäre.

Deutschland sieht nicht gut aus auf der Anklagebank

Zum mutigen Kunstwerk wird dieser Film aber dadurch, dass die eigentlichen Hauptfiguren hier die Fakten und Argumente sind. Sie belegen, dass Deutschland seit 30 Jahren alle konsequente Umweltpolitik blockiert und aushebelt. "Es ging uns darum, systematische Strukturen kenntlich zu machen", sagt Andres Veiel am Telefon. "Ein Versagenskontinuum. Die Linie von Schröder und Clement setzt sich ungebrochen fort bei Merkel und Gabriel." Merkel wird deshalb auch bis kurz vor Schluss eher in die Szenerie als in Szene gesetzt: Man sieht Martina Eitner-Acheampong meist von hinten, sie darf die ehemalige Kanzlerin mehr verkörpern als spielen. Umso überraschender, dass sie es dann ist, die dem Prozess am Ende eine atemberaubende Wende gibt.

Deutschland sieht nicht gut aus auf der Anklagebank. Veiel und seine Co-Autorin Jutta Doberstein zeigen, wie die Regierungen von Schröder und Merkel an den Parametern geschraubt und die Schlupflöcher so groß gehalten haben, dass selbst Kohlekraftwerke und panzergroße Pkws hindurchpassten. 2007 reiste Merkel gemeinsam mit Sigmar Gabriel nach Grönland und sprach im roten Anorak vor schmelzender Kulisse von Verantwortung und konsequentem Handeln. Im Anschluss flog sie zur Kabinettssitzung nach Merseburg, wo es darum gehen sollte, dass endlich Schluss ist mit der steuerlichen Begünstigung von Dienstwagen. Stattdessen kam genau das Gegenteil, die sogenannte Lex SUV, eine Vorgabe, deren umweltpolitische Absurdität im Film so zusammengefasst wird: "Je schwerer das Auto, desto leichter ist es, das Gütesiegel zu bekommen."

Die wichtigste Rolle kommt dem Vorsitzenden Richter Klein zu, gespielt von Edgar Selge, sehnig wie eh und je, der mit dem unbedingten Willen, die Zusammenhänge zu begreifen, alle 15 Minuten den Stand der Verhandlungen zusammenfasst, ein bisschen wie Peter Lustig in sehr ernst, ein Conférencier der tieferen Zusammenhänge unserer Gegenwart.

Die Gegenwart dringt auch auf ganz andere Art in dieses Zukunftsszenario ein: Gedreht wurde im vergangenen Juni, weshalb die Akteure im Gerichtssaal durch coronakompatible Plexiglaswände voneinander getrennt werden - was aber exzellent in dieses Prozess-Setting passt, so abgeschottet wie beide Seiten in ihren Argumentationsmustern hocken. Was, so fragt Ulrich Tukur als Anwalt der BRD, hätte es politisch gebracht, wenn Merkel sich als Umweltmärtyrerin aufgespielt hätte, wenn doch klar ist, dass sie dann die Wahlen verloren hätte? Welche Möglichkeiten hat die Politik, aus dem Schnappatmungsbetrieb auszusteigen zugunsten mutiger, weil weit über den nächsten Wahlkampf hinausweisender Entscheidungen? Und was wird aus unserem Grundrecht der Freiheit, wenn wir zu stark regulierend eingreifen?

Die Realität scheint die Fiktion einzuholen

Andres Veiel machte vor ein paar Tagen eine Erfahrung, wie sie Klimawissenschaftler seit einiger Zeit permanent machen. Immer wieder überholen die Ereignisse ihre Prognosen, immer schneller tritt ein, was sie eigentlich für eine fernere Zukunft prognostiziert haben. Beim Radiohören dachte Veiel kurz, er sei in einer Vorbesprechung seines Films gelandet, ging es doch um Staaten des Südens, die die Industrienationen in Haftung nehmen wollen: Guatemalas Präsident Alejandro Giammattei hat, gemeinsam mit dem honduranischen Staatschef, nach dem verheerenden Hurrikan Eta angekündigt, Hilfsgelder bei der Weltbank zu beantragen - die Industriestaaten sollten, als Hauptverantwortliche für den Klimawandel, für die Schäden aufkommen. "Das ist zwar noch keine direkte Klage", so Veiel am Telefon, "aber sie wird mit der Benennung des Verursacherprinzips wahrscheinlicher."

Damals in Grönland und in einer Vergangenheit, die vom Heute exakt so weit weg ist wie Veiels Gerichtsdrama, nämlich knapp 14 Jahre, sagte Merkel übrigens: "Wir müssen wichtige politische Prozesse sichtbar machen." Nur dann könne mit "Elan und Tatkraft" dagegen vorgegangen werden. Es ist Andres Veiel, der nun im Rückblick diese politischen Prozesse sichtbar macht. Man kann nur hoffen, dass die Präsidenten von Guatemala und Honduras genug "Elan und Tatkraft" haben, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Industriestaaten selbst, so viel ist nach diesem analytischen Feuerwerk klar, werden es bestimmt nicht tun.

Ökozid. Das Erste, 18.11., 20.15 Uhr und in der Mediathek.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

ARD-Doku "Expedition Arktis"
:Eine Welt verschwindet

Faszinierend und erschreckend zugleich: Die Dokumentation "Expedition Arktis" zeigt den Nordpol, wie er noch nie vom Sofa aus zu sehen war - und wie er wohl bald endgültig Geschichte sein wird.

Von Vivien Timmler

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: