Kampf gegen Piraterie:Im Ozean der Daten

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Die Angriffe der Piraten gleichen sich überall auf der Welt: Sie nutzen wendige Schnellbote, auf denen Waffen montiert sind. (Foto: Sarah Unterhitzenberger/ SZ Illustration)
  • Seit 2010 versucht das israelische Start-up Windward die Weltmeere systematisch zu überwachen. Das Ziel: Schmuggler und Piraten aufzuspüren.
  • Die Firma arbeitet mit den Daten von Satelliten, Trackingsystemen, Häfen und Werften - eine Fülle an Informationen, die nicht leicht zu interpretieren ist.

Von Agnes Fazekas

Ami Daniel sieht durch das Panoramafenster im 35. Stock eines Glasturms im Osten von Tel Aviv. Sein Blick wandert über Hochhäuser in ein Mittelmeer, das so aufgeregt wirkt wie eine Badewanne. Selbst die Segler dösen heute vor der Küste. "Wir schauen nur bis zum Horizont", sagt der 34-Jährige. "Dahinter liegt der Wilde Westen." Sein rundes Jungengesicht wirkt sehr zufrieden dabei.

Sieben Jahre lang diente Daniel als Offizier auf einem Kriegsschiff, bekam im Libanonkrieg 2006 eine Rakete aufs Deck gefeuert. Aber Daniel ist kein Soldat mehr. Er ist jetzt Geschäftsmann. Und da draußen befindet sich der letzte analoge Markt dieser Welt - und der undurchsichtigste.

Daniel wähnt sich in Besitz einer exklusiven, digitalen Kristallkugel. Hinter einer Armada von Rechnern sitzt seine 70-köpfige Mannschaft aus Turnschuhträgern: IT-Spezialisten, Daten-Experten, Risiko-Modell-Bastler. Sie entwickeln und umhegen die bisher vermutlich umfassendste marine Datenbank der Welt: Schiffskoordinaten von bislang sechs Jahren, und täglich kommen über 250 Millionen Pünktchen dazu.

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Sie kreuzen vor Somalia, kapern Schiffe und nehmen riesige Summen an Lösegeld ein. Von dem Geld bekommen die Piraten jedoch selbst nicht viel zu sehen, es fließt an Hintermänner - und die investieren kräftig in kriminelle Geschäfte.

Ein Hauch Kapitänsstube, etwas Hafenindustrie-Schick und viel Glas, also Transparenz. So präsentiert Daniel die Schnittstelle von alter und neuer Welt. Von traditioneller Seefahrt und Cybertech. Zur Deko liegen nautische Geräte herum, der Firmenname hängt verschlüsselt im Nato-Alphabet an der Wand. "Windward": Luvseite - als Kriege noch mit Segelschiffen geführt wurden, war das die wendige Angriffsposition.

In einem der Glaskästen beugen sich zwei Männer in Offiziersuniform über einen Bildschirm. Das Unternehmen wird nicht nur vom ehemaligen Generalstabschef der IDF (Israel Defense Forces) beraten, die israelische Armee gehört auch zu Windwards treusten Kunden. Kein Wunder, wie bei vielen israelischen Cybertech-Start-ups rekrutiert sich das Team zu einem großen Teil aus ehemaligen Geheimdienstlern.

Einer von ihnen ist Meidan Brand. Auf dem Bildschirm seines Laptops wimmelt es von bunten Linien: Sie zeichnen die Routen aller größeren Schiffe nach, die derzeit auf den Weltmeeren unterwegs sind. Er tippt einen Befehl, und die Seekarte zoomt Richtung Nordkorea. "Wie Jemen derzeit ein Schmuggel-Hotspot", kommentiert Brand.

Eine Linie kommt ihm verdächtig vor. Auf dem Weg von China nach Nordkorea macht sie einen Kringel im Nirgendwo. "Das Schiff ist hier drei Tage vor Anker gegangen, das macht keinen Sinn." Er tippt einmal aufs Mauspad und ein Steckbrief ploppt auf: Besitzer, Größe, Ziel und Fracht. Gerade schlägt das Schiff einen neuen Kurs ein. Das System meldet nun eine andere Nationalität, außerdem scheint der Frachter drei Meter gewachsen zu sein - und mitten auf dem Meer die Ladung gewechselt zu haben.

Als Ami Daniel die Firma 2010 mit seinem Partner Matan Peled gründete, zitterte die Handelsseefahrt vor somalischen Piraten; und Nationen führten erstmals Machtkämpfe um Öl- und Gasfelder auf See. Daniel und Peled wollten die ersten sein, denen es gelingt, die Weltmeere systematisch zu überwachen - und das Wissen zu Geld zu machen. Zumal am Horizont plötzlich ein Silberstreif schimmerte: Erstmals wurden kommerzielle Satelliten ins All geschossen, und damit auch AIS-Empfänger.

Das "Automatische Identifikationssystem" wurde ursprünglich entwickelt, um Kollisionen zwischen großen Schiffen zu vermeiden. Im internationalen Gewässer sind alle Passagierschiffe und Frachter, die über eine Bruttoraumzahl größer als 300 verfügen, verpflichtet, einen Sende-Empfänger an Bord zu führen; im nationalen Verkehr gilt das für Schiffe über 500 BRZ.

Die Sender übermitteln alle zwei Sekunden Kurs, Position, Geschwindigkeit und Identität an Schiffe in der Umgebung oder an Küstenstationen. Oder ins All an Satelliten. Wegen der Erdkrümmung reichen die Signale horizontal allerdings nur etwa 70 Kilometer weit. Himmelwärts dagegen senden die Schiffe ihren Steckbrief bis zu 400 Kilometer. Dank der Empfänger im Orbit können die Daten nun rund um den Globus gebündelt werden. Gab es bis dahin gar keine Daten, fluten sie jetzt das Netz.

Denn bald beteiligten sich auch Open-Source-Plattformen am Sammeln und ermutigten Hobby-Nautiker, selbst AIS-Empfänger aufzustellen. Auf interaktiven Seekarten kann man deshalb nun jedes der 200 000 Schiffe in Echtzeit verfolgen, das mit einem Sender ausgerüstet ist. Und jeder hat Zugriff - zumindest theoretisch.

Denn Seiten wie www.marinetraffic.com zeigen zwar ein lustiges Wimmelbild des internationalen Schiffsverkehrs: Tanker, Hochseefischer, Handelsflotten. Aber selbst, wer sich die Mühe macht, jedes Schiffchen anzuklicken, kann sich nur bedingt auf die Details verlassen. Das AIS wurde für die Sicherheit auf See entwickelt - und nicht als elektronische Fußfessel. Es gibt kein Kontrollorgan, die Daten sind weder verschlüsselt, noch ist die Übertragung aus der Crowd besonders zuverlässig: Am anderen Ende sitzt immer noch ein Mensch. Zudem wissen die Kapitäne jetzt, dass ihre Aktivitäten global verfolgt werden können. "Wer etwas verbergen will, manipuliert seine Identität mit dem AIS ebenso einfach wie die Ladung oder seinen Kurs", sagt Daniel.

Und dazu muss man nicht mal selbst an Bord sein: Die Cyber-Security-Firma Trend Micro zeigte 2013, wie man mit Hardware für 200 US-Dollar Datenpakete in die Server schleust: Auf www.marinetraffic.com versetzten sie ein Schiff vom Missouri in einen Binnensee in Texas. Ohne viel Aufwand lassen sich so auch Phantomschiffe auf die Ozeane zaubern. Und umgekehrt könnten Piraten ihre Opfer einfach verschwinden lassen.

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Mitte 2014 machte Windward Schlagzeilen mit einer eigenen AIS-Studie: In einem Jahr soll die Zahl an GPS-Manipulationen um 59 Prozent gestiegen sein. Gleichzeitig übermittelten nur 41 Prozent der Kapitäne ihren Zielhafen; ein Viertel der Schiffe soll die Übertragung mindestens zeitweise abgeschaltet haben - und ein Prozent sei sowieso unter falscher Identitätsnummer unterwegs. "Als ob tausend Leute am Tag den Kennedy International Airport mit gefälschtem Reisepass passieren!", so Daniel.

Wieso die bösen Jungs, wie Daniel sie nennt, ihr AIS überhaupt nutzen? Wenn ein Kapitän die Übertragung lange Zeit blockt, riskiert er nicht nur die eigene Sicherheit, sondern macht sich verdächtig. Zum Beispiel, wenn er auf See einem Kriegsschiff begegnet oder einem Konkurrenten, der ihn ausbooten will. Außerdem verliert das Schiff ohne AIS seine Versicherungs-Police. Wer etwas zu verstecken hat, fährt also besser unter der Tarnkappe von lückenhaft oder falsch gesendeten Daten.

Ob Intention, Störungen oder Schlamperei, laut Windward sind 53 Prozent der AIS-Daten fehlerhaft. Natürlich liegt es am Geschäftsinteresse der Firma, die Hohe See weiterhin als Wilden Westen darzustellen. Andererseits lassen sich die Zahlen kaum widerlegen: Auf dem Gebiet der maritimen Datenanalyse gibt es so wenig Konkurrenz, wie es Quellen gibt.

Selbst die Google-Kooperation "Global Fishing Watch" basiert auf AIS-Tracking. Erst 2016 wurde die Plattform als "bahnbrechendes Werkzeug" im Kampf gegen die Überfischung präsentiert. Daniel hält das für übertrieben. Auch bei Google fische man im Trüben: Laut Windwards Analysen sind die berüchtigten Trawler aus China besonders rege dabei, mit GPS-Manipulation ihre Reviere zu verschleiern. Andere Infos lassen sich sowieso manuell festlegen, zum Beispiel der Tiefgang, und damit die Fangmenge.

Um die Datenflut aus dem Meer im großen Stil zu nutzen, müsse man sie erst mal säubern, prüfen und richtig interpretieren. Und darin sei das "Windward Mind" der Welt weit voraus. So nennt Daniel seine Datenbank, weil sie nicht nur aus Erfahrungen lernt, sondern inzwischen sogar selbst Entscheidungen trifft.

Tatsächlich gebe es derzeit nur eine Handvoll Firmen, die ähnliche Dienstleistungen anbieten, sagt Sebastian Bruns vom Zentrum für Maritime Strategie und Sicherheit an der Uni Kiel. Seiner Meinung nach ist Windward ganz vorne dabei, wenn es um globale und systematische Risikoanalysen geht. Auch die meisten Geheimdienste kümmerten sich schließlich nur um für sie relevante Regionen.

Daniel zeigt einen Screenshot: vor der Küste Angolas sind zwei bunte Knäuel auf der Karte verzeichnet. "Das passiert, wenn man die Punkte aus dem AIS einfach verbindet, wie sie reinflackern." Jedes Bit und Byte laufe deshalb durch eine Art digitale Waschmaschine, einen Algorithmus, der im ersten Schritt die Kommunikation zwischen den Schiffen entheddert.

Die Waschmaschine wird aber nicht nur mit AIS-Koordinaten gestopft. Windward zapft diverse Quellen an, um Identität und Routen gegenzuprüfen. "Wir pflegen gute Beziehungen zu Häfen und Werften, schauen in die Register, analysieren die technischen Spezifikationen." Dazu kommen Satellitenbilder, Wetterkarten, traditionelles Wissen über Strömungen und klassische Handelswege. Außerdem durchkämme das Team die Medien und das Netz nach jedem Fitzelchen Information.

Im anschließenden Spülgang berechnet das "Windward Mind" für jedes Schiff 300 Parameter und vergleicht diese mit ähnlichen Schiffen sowie der eigenen Geschichte. Zum Beispiel hinsichtlich Abweichungen von zurückgelegten Meilen, Routen oder Liegezeit im Hafen. Das Ergebnis sei ein Archiv mit den Logbüchern jedes großen Schiffes, das sich auf den Weltmeeren befindet, Flagge, Besitzer, Flotte. Alle Routen, die es in den letzten fünf Jahren fuhr, jeder Hafen, den es anlief. Daniel spricht von einem biometrischen Reisepass. Am Ende schließlich schleudern sie die korrigierten Daten durch mathematische Risikomodelle; auf der Suche nach verdächtigen Mustern wie Identitätswechsel, abgedrehtem AIS, unüblicher Route oder unwirtschaftlichem Verhalten.

Wer einen Kundenzugang hat, kann sich über eine Suchmaske Schiffe nach Eigenschaften listen lassen. Sich sogar vorhersagen lassen, welchen Kurs sie als Nächstes einschlagen werden. Oder ein Alarmsystem einrichten. "Stell dir vor, ich habe deine Kreditkartenabrechnung", sagt Daniel: "Ich weiß, wo du einkaufst, was du isst, wohin du reist." Der neuste Coup ist ein Werkzeug, das in Echtzeit die verdächtigsten fünf Prozent aller Schiffe weltweit ausflaggt. "Dafür haben wir das System mit tausend bekannten Schmuggelfällen trainiert."

Mithilfe dieses Filters stießen spanische Ermittler auf einen Frachter, der 18 Tonnen Hasch geladen hatte. Offiziell war das Schiff unter der Flagge der Komoren von Algerien nach Ägypten unterwegs. Auf der Seekarte von Windward driftete es dagegen scheinbar ziellos vor Gibraltar. Mehrere Male durchbrechen rote Tupfen die grüne Kurslinie. Das Warnsignal für ein ausgeschaltetes AIS. Verdächtige Blankostellen, um einen Schlenker an die Küste zu verheimlichen, oder ein Treffen mit einem Schmuggelboot. Den Einwand, dass auch Windward nur Schiffe sieht, die ein AIS an Bord haben, lässt Daniel nicht gelten. "Wenn du von Libyen nach Griechenland willst, brauchst du ein großes Schiff. Die richtig bösen Jungs sind nicht auf kleinen Kuttern unterwegs."

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Das Geschäft mit dem Risiko ist ein Geschäft mit der Angst. Im März 2017 versetzte Windward England in Alarmbereitschaft, nachdem sie der Times aufgeschlüsselt hatten, dass Anfang des Jahres 2850 "Geisterschiffe" in europäische Häfen eingelaufen seien. Also Schiffe, die zeitweise von der digitalen Karte verschwunden waren. Vierzig davon seien von der Küste Libyens gekommen, zwanzig aus syrischem oder libanesischem Hoheitsgebiet. "Womöglich nutzen sie die Funkstille vor Europa, um Terroristen oder Waffen an kleinere Schiffe zu verladen", sagt Daniel.

Jeder Verdacht dient als Verkaufsargument. Daniel spricht von der "Bedrohung von Morgen". Wenn er auf Kundenfang um den Globus zieht, hat er individuell zugeschnittene Präsentationen im Gepäck. "Erst mal zeige ich den Leuten, was sie alles nicht wissen."

Umweltsünden, Waffentransporte, gefährliche Manöver - wahrscheinlich gibt es niemanden in der Schifffahrt, der mehr weiß als die Mitarbeiter von Windward. Aber birgt das nicht auch eine moralische Verpflichtung? "Wir handeln mit Technologie, nicht mit Informationen", sagt Daniel. Er gebe die Verantwortung spätestens mit dem Passwort an die Käufer ab.

Allerdings seien diese sorgsam ausgewählt, "Premiumkunden mit westlichen Werten", versichert Daniel. "Wir sind eine israelische Firma. Wir können nicht mit jedem arbeiten." Bisher befragten Geheimdienste und Küstenwachen in Europa und Südostasien sein digitales Orakel, um Terroristen oder Schmuggler aufzuspüren. In Westafrika sind es Fischerei-Ministerien, die Geld an illegale Trawler verlieren.

Aber nicht nur kriminelle Machenschaften lassen sich mit dem System aufdecken. Als 2015 das Atomabkommen mit Iran unterzeichnet und westliche Sanktionen aufgehoben wurden, rätselten Börsenhändler, wie viel Öl sich nun über den Markt ergießen würde. Daniel nutzte die Diskussion und warf eine exakte Zahl in den Raum: 54 Millionen Barrel. Errechnet aus technischen Daten der Schiffe und der Ladegeschwindigkeit der Brücken.

Die Zukunft sieht rosig aus hier oben im 35. Stock. Die Satellitentechnik wird immer besser, das "Windward Mind" schlauer, und Daniel hat ein neues Geschäftsfeld entdeckt: Als er vor einiger Zeit die altehrwürdige Versicherungsbörse Lloyd's in London besuchte, wunderte er sich: "Die machen alles noch mit Stift und Papier wie vor 300 Jahren." Die Makler kümmerte nur, wie alt ein Schiff ist oder wer die Besitzer sind. Der AIS-Transponder ist zwar keine Fußfessel, aber mit Hilfe des "Windward Mind" wird er zu einer Art Fitnesstracker, der verrät, wie risikofreudig ein Kapitän bei der Kurswahl ist. Natürlich nur, solange ihn kein Pirat von der Karte zaubert.

© SZ vom 05.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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