Umwelt:Grüner geht's noch

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Windräder haben ihre Berechtigung. Doch irgendwann stellt sich die Frage. Wie gut können sie recycelt werden? Die Antwort wird längst nicht immer mit bedacht, kritisieren Forscher. (Foto: Bernd Lauter via www.imago-images.de/imago images/CoverSpot)

Die chemische Industrie muss umweltfreundlicher werden. Doch nicht jede Strategie ist auf lange Sicht nachhaltig. Welche Ansätze sinnvoll sind.

Von Andrea Hoferichter

Nur selten sind die unerwünschten Nebenwirkungen materiellen Wohlstands so offensichtlich wie der bunte Plastikmix aus Flaschen, Flipflops und Fischernetzen, der manche Urlaubsstrände verunstaltet. Die meisten potenziell schädlichen Chemikalien in der Umwelt sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen: Flammschutzmittel zum Beispiel, Biozide, Pestizide, Medikamente und langlebige Fluorchemikalien, die unter anderem in beschichteten Pfannen, Jacken und Backpapier stecken können und, wie das Umweltbundesamt kürzlich berichtete, in bedenklich hohen Dosen im Blut von Kindern nachgewiesen wurden. Immer wieder finden Chemiker problematische Substanzen dort, wo sie nicht hingehören.

Von solchen Funden hatte Klaus Kümmerer von der Leuphana-Universität Lüneburg irgendwann genug. "Ich hatte einfach keine Lust mehr, den fünftausendsten Schadstoff im sechshundertsten beprobten Gebiet zu messen", sagt der Wissenschaftler. Seit 15 Jahren forscht er nun vor allem daran, wie Chemie von Grund auf nachhaltiger werden kann. Gemeinsam mit seinem Team baute er zum Beispiel ein Herzmedikament, einen Betablocker und ein Antibiotikum chemisch so um, dass sie in der Umwelt leichter von Mikroben zersetzt werden können. Ähnlich wie Chemiker einst Tenside aus Waschmitteln entschärften, die Anfang der 1960er-Jahre meterhohe Schaumberge auf den Flüssen produziert hatten.

"Benign by Design" heißt das Konzept, Stoffe chemisch so zusammenzubauen, dass sie in der Umwelt möglichst keine Schäden anrichten. Es zählt zu den zwölf Leitideen der sogenannten grünen Chemie, die vor 22 Jahren von den US-amerikanischen Chemikern Paul Anastas und John Warner entwickelt wurden. "Grün" sind demnach auch Produkte und Herstellungsverfahren, die möglichst wenig Abfälle produzieren, die mit wenig Energie und Ressourcen auskommen oder mit solchen aus erneuerbaren Quellen. Es gebe heute unzählige Beispiele für den Erfolg des Konzepts, sagt Julie Zimmerman von der Yale University, USA, die mit Anastas zusammenarbeitet. Sie reichen von Batterien für Elektroautos über Biotreibstoffe bis zu sanften Produktionsmethoden für Krebsmedikamente, bei denen wenig Abfall entsteht.

Plastikflaschen am Urlaubsstrand sind nur ein Teil des Problems. Vieles ist gar nicht sichtbar. (Foto: Christoph Sator/dpa)

"Eine der größten Herausforderungen ist es, vom Begriff Abfall wegzukommen und jeden 'Abfallstoff' als Ressource zu begreifen", sagt Zimmerman. Im Fachblatt Science berichtete ihr Team Anfang des Jahres von zwei Beispielen, die bereits industriell umgesetzt werden. So wird der Holzabfallstoff Lignin aus der Papierindustrie unter anderem als Ausgangssubstanz für Vanillearoma genutzt, und aus dem Treibhausgas Kohlendioxid lassen sich chemische Bausteine für Schaumstoffe aus Polyurethan gewinnen.

Aus Kümmerers Sicht sind die Leitideen der grünen Chemie richtig, greifen allerdings oft zu kurz. "Sie beachten nicht die gesamten Stoff- und Produktströme und wie man sie reduzieren könnte", kritisiert er. Zunehmend gefragte Metalle für die Digitalisierung, für Windräder und Solarzellen, oder Phosphor für Düngemittel zum Beispiel seien schlicht endlich und damit Ressourcen, mit denen man gut haushalten müsse. "Man sollte sich bei jeder Chemikalie und jedem Produkt als Erstes fragen: Brauche ich das überhaupt?", ist er überzeugt.

Pilzresistentes Holz könnte Fungizide in Fassadenfarben überflüssig machen

Für manche Funktionen gebe es durchaus nachhaltigere, nicht-chemische Alternativen. Um Holzbauten zu schützen, könnten zum Beispiel ein Dachüberstand oder pilzresistentes Holz den Einsatz von Fungiziden in Fassadenfarben überflüssig machen. "Erst wenn klar ist, dass eine chemische Verbindung benötigt wird, stellt sich die Frage, wie sie sich am nachhaltigsten produzieren lässt", betont der Chemiker. Dazu zähle auch, ethische und soziale Kriterien zu beachten, etwa die Herkunft der Ressourcen und unter welchen Bedingungen diese gewonnen werden.

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Wie sehr eine verengte Sicht schaden kann, zeigt das Beispiel Biodiesel. Ein Teil des Treibstoffs wird statt aus Erdöl aus Pflanzenöl gewonnen, also aus nachwachsenden Rohstoffen. Doch für die Öle wurden schon Regenwälder gerodet und Moore trockengelegt, die noch jahrhundertelang Kohlendioxid freisetzen werden. Äcker werden zudem für die Nahrungsmittelproduktion blockiert. "Das richtet mehr Schaden an, als dass es nutzt", sagte der Chemie-Nobelpreisträger Hartmut Michel kürzlich auf der virtuell abgehaltenen Lindauer Nobelpreisträgertagung. Zudem sei der Wirkungsgrad der Photosynthese, mit der Pflanzen aus Licht und Kohlendioxid Biomasse erzeugen, mit rund einem Prozent ausgesprochen niedrig. Effizienter ist es, mit Solarstrom Wasserstoff zu erzeugen, der sich dann mit Kohlendioxid aus Kraftwerksabgasen oder aus der Luft etwa zu den Chemierohstoffen Methan oder Methanol umsetzen lässt.

Was die Kreislaufwirtschaft betrifft, lohnt ebenfalls ein Blick ins Detail. "Recycling ist immer mit Materialverlusten verbunden, mit Energieaufwand und weiteren Abfallstoffen", sagt Kümmerer. Je mehr Substanzen in einem Material steckten, desto aufwendiger werde es, sie wieder auseinanderzubekommen. Viele Kunststoffe zum Beispiel enthalten noch Farbstoffe, Flammschutzmittel und Weichmacher.

Problematisch sind auch innovative Verbundmaterialien, die Autos leichter machen sollen. "Die mögen zwar helfen, Kohlendioxid einzusparen, aber in 20 Jahren steht man da und muss sehen, wie man das recyceln kann", so Kümmerer. Das gleiche Problem stellt sich heute bei Innovationen aus der Vergangenheit, etwa bei Elektrogeräten, Windrädern und Solarzellen. "Produkte und Materialien müssten viel stärker auf Recyclingfähigkeit hin geplant werden", fordert der Chemiker. Je einfacher sie aufgebaut seien, desto besser.

Jede Innovation müsste sofort kritisch hinterfragt werden: Braucht man sie wirklich?

Manche Stoffe lassen sich nicht in den Kreislauf führen, etwa Shampoo, Putzmittel oder Medikamente. Weil Kläranlagen sie oft nicht auffangen können und rund 80 Prozent des weltweiten Abwassers ohnehin nicht gereinigt werden, sollten sie so konzipiert werden, dass sie sich möglichst schnell komplett zersetzen.

Dass staatlicher Druck und finanzielle Anreize gefordert sind, damit die Chemiebranche nachhaltiger wird, steht für Forscher wie Zimmerman und Kümmerer außer Frage. Auch neue Geschäftsmodelle können helfen. Zum Beispiel das sogenannte Chemikalien-Leasing, das seit einigen Jahren von der Industrieabteilung der Vereinten Nationen UNIDO gemeinsam mit der Schweiz, Österreich und Deutschland gefördert wird. Dabei verkaufen Hersteller oder Importeure keine Chemikalien, sondern eine Dienstleistung, die auch Beratung und die Rücknahme von Chemikalien beinhaltet.

Ein Beispiel sind Autohersteller, die den Lackproduzenten pro Fläche lackiertes Blech bezahlen statt für den Lack selbst. "Dann gibt es einen Anreiz, mit möglichst wenig Farbe eine gute Qualität zu erreichen", erklärt Kümmerer. In Krankenhäusern könne man Hersteller von Desinfektionsmitteln statt für die Chemikalien für Beratungen zum nötigen Hygienestandard bezahlen. Sein Team habe das erfolgreich in einer Klinik in Worms getestet, sagt Kümmerer. Etwa die Hälfte der Desinfektionsmittel konnte so eingespart werden.

Nicht zuletzt gehört das Thema nachhaltige Chemie als Pflichtveranstaltung in die Ausbildung. Dies aber ist noch immer eher die Ausnahme als die Regel, auch in Deutschland. Seit März dieses Jahres bietet die Leuphana-Universität unter Kümmerers Federführung ein berufsbegleitendes Masterstudium für nachhaltige Chemie an. Der Forscher fordert seine Studierenden auf, jede innovative Produktidee kritisch zu hinterfragen: Welche Funktion soll das Produkt erfüllen? Welche Folgen hat es, wenn ich 100 000 Tonnen davon produziere? Wo kommt das Material dafür her? Wie viel verliert man? Und das alles über den ersten Lebenszyklus hinaus, sagt der Wissenschaftler: "Diese Art von Denken brauchen wir."

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