Klimakolumne:Sehnsucht nach der Stellwerkstörung

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Der U-Bahnhof Giselastraße in München, im Januar 2021. (Foto: Stephan Rumpf)

Unser Autor Dirk von Gehlen fragt sich, wann man im öffentlichen Nahverkehr endlich nicht mehr über mitreisende Aerosole nachdenken muss. Und was man tun kann, damit dann noch mehr Menschen als vor der Pandemie mit Bus und Bahn fahren.

Von Dirk von Gehlen

Können Sie sich erinnern, wann Sie zuletzt mit einer U-Bahn gefahren sind? Kann es sein, dass das noch 2019 war? 2019 war jedenfalls für den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) ein sehr erfolgreiches Jahr, 2020 hingegen eine Katastrophe. Bis zu 80 Prozent weniger Fahrgäste verzeichnete der Branchenverband VDV im ersten Lockdown. Im August und September stieg die Auslastung wieder auf 60 bis 70 Prozent des normalen Niveaus, nur um danach erneut abzufallen. Für das gesamte vergangene Jahr schätzt der Verband den angefallenen Verlust auf 3,5 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, aber die Betreiber des ÖPNV gehen davon aus, dass ihnen 2021 nochmal der gleiche Verlust droht. Ein Vertreter des VDV erklärte in dieser Woche, dass sein Verband frühestens im Herbst mit einer normalen Nutzung des ÖPNV rechne.

Ich freue mich darauf, wieder in einer S-Bahn zu sitzen und mir einzig über Stellwerksstörungen Gedanken machen zu müssen, nicht über Ansteckungsrisiken. Aber bis dahin scheint es nicht nur wegen Corona und den Impfungen ein langer Weg zu sein. Wann werden die Menschen nicht mehr an all die Aerosole denken, die im vollbesetzten Bus oder in der U-Bahn mitreisen?

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass wir uns nach Corona wieder selbstverständlich in großen Gruppen - und damit auch im ÖPNV - bewegen werden. Damit dies aber gelingen kann, muss die Branche die Krise überstehen, und danach noch attraktiver werden. Der Rettungsschirm, den Bund und Länder dafür zur Verfügung gestellt haben, reicht nach Angaben des Verbands allerdings nur bis zum Ende des ersten Quartals 2021.

Ein Busgipfel im Kanzleramt ist nicht geplant

Doch die Debatte über die fehlenden Milliarden wird beim ÖPNV anders geführt als jene rund um die Automobilindustrie und den individuellen Personenverkehr auf der Straße. Ein Busgipfel im Kanzleramt ist nicht geplant und auch von einem dem "Zukunftsfonds Automobilindustrie" vergleichbaren Projekt für den ÖPNV ist aktuell nichts zu hören. Dabei wäre aus Gründen des Klimaschutzes nicht nur die Rettung, sondern der nachhaltige Ausbau des ÖPNV geboten. Denn ein attraktiver ÖPNV ist einer der wichtigsten Hebel für eine klimafreundliche Verkehrspolitik.

Immerhin waren die Fahrgastzahlen stetig gestiegen, bis die Pandemie alles durcheinanderbrachte: 10,413 Milliarden Fahrten zählten die VDV-Betriebe 2019, im Schnitt fuhr demnach jeder Einwohner Deutschlands etwa 125 Mal mit. Zählt man die Langstrecken dazu, werden pro Person jährlich gut 2000 Kilometer mit Bus oder Bahn zurückgelegt. Allerdings: Mehr als die fünffache Strecke wird noch immer mit Auto oder Motorrad gefahren. Das kann so nicht bleiben.

Damit noch mehr Menschen von Auto auf den ÖPNV umsteigen, benötigen die Anbieter auch mehr Personal. Woher das kommen kann? Womöglich aus einem anderen Verkehrssektor. Die Wochenzeitung "Die Zeit" schreibt in dieser Woche, dass bis zu 60.000. Beschäftige in der Luftfahrt in Folge der Pandemie ihren Arbeitsplatz verlieren könnten - und stellt einen Piloten vor, der sich jetzt zum Lokführer umschulen lässt.

(Dieser Text stammt aus dem wöchentlichen Newsletter Klimafreitag, den Sie hier kostenfrei bestellen können.)

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