Mensch-Maschine-Steuerung:Wissenschaftliches Fehlverhalten in Studie zum Gedankenlesen

Hirnforscher Birbaumer

Der weltweit anerkannte Experte Birbaumer ist davon überzeugt, dass vollständig gelähmte Menschen mit der Außenwelt kommunizieren können.

(Foto: dpa)
  • Die Deutsche Forschungsgemeinschaft schließt den rennomierten Hirnforscher Niels Birbaumer für fünf Jahre von der Antragsberechtigung und von jeder Gutachtertätigkeit aus.
  • Zudem wird er aufgefordert, Fördermittel zurückzuzahlen und die betreffenden Publikationen aus den Jahren 2017 und 2019 zurückzuziehen.
  • Es sei ihm ein "großes persönliches Anliegen, dass Unzulänglichkeiten bei der Publikation (...) nicht dazu führen, dass den von uns betreuten Patienten ihre bescheidenen Möglichkeiten zur Kommunikation genommen werden", schreibt der Forscher in einer Stellungnahme.

Von Felix Hütten, Claudia Henzler und Till Krause

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat in einem Untersuchungsverfahren gegen den Hirnforscher Niels Birbaumer und seinen Kollegen Ujwal Chaudhary in mehreren Fällen wissenschaftliches Fehlverhalten festgestellt.

Birbaumer, der unter anderem an der Universität Tübingen als Seniorprofessor tätig ist, wird nach dem Beschluss für fünf Jahre von der Antragsberechtigung und von jeder Gutachtertätigkeit bei der DFG ausgeschlossen. Zudem wird er aufgefordert, Fördermittel zurückzuzahlen und die betreffenden Publikationen aus den Jahren 2017 und 2019 zurückzuziehen.

Er will fortan seine Arbeitsweise kritisch hinterfragen

Hintergrund der Auseinandersetzung ist eine von Birbaumer publizierte und weltweit beachtete Studie, der zufolge es möglich sei, über eine Gehirnkappe mit vollständig gelähmten ALS-Patienten in Form von Ja-Nein-Fragen zu kommunizieren. Ein Tübinger Informatiker überprüfte die Daten und stieß dabei auf Fehler. Demnach liefere der Fachartikel, anders als von den beteiligten Wissenschaftlern behauptet, keinerlei Evidenz dafür, dass die Kommunikation mit Patienten in einem sogenannten Completely-locked-in-Zustand (CLIS) möglich ist.

Da der Informatiker mit seiner Kritik zunächst kein Gehör fand, wandte er sich an Journalisten der Süddeutschen Zeitung. Mehrere daraufhin von SZ-Magazin und SZ befragte Experten bestätigten die Mängel der Studie. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte nach Veröffentlichung der Artikel im Frühjahr ein förmliches Untersuchungsverfahren gegen Niels Birbaumer und einen seiner Mitarbeiter eingeleitet, das nun abgeschlossen ist. In drei Fällen hat die DFG demnach Falschangaben festgestellt. So sollen die beiden Wissenschaftler, anders als von ihnen beschrieben, die Untersuchungen ihrer Patienten nur unvollständig per Video aufgezeichnet haben.

Zudem seien Daten einzelner Patienten nur summarisch und nicht aufgeschlüsselt ausgewertet worden. Insgesamt sei damit eine Datentiefe vermittelt worden, die es de facto nicht gegeben habe, schreibt die DFG. Außerdem sollen die beiden Forscher zahlreiche erhobene Daten nicht verwendet haben, ohne dies "nachvollziehbar" offenzulegen.

"Ich werde die Universität Tübingen verlassen", sagt Birbaumer als Reaktion

Kurz nach Veröffentlichung ließ Birbaumer ein Statement verbreiten, in dem er bedauert, dass es ihm nicht gelungen sei, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften. "Selbstverständlich habe ich die gesamte Auseinandersetzung zum Anlass genommen, meine Arbeitsweise kritisch zu hinterfragen", schreibt Birbaumer. Es sei ihm ein "großes persönliches Anliegen, dass Unzulänglichkeiten bei der Publikation (. . .) nicht dazu führen, dass den von uns betreuten Patienten ihre bescheidenen Möglichkeiten zur Kommunikation genommen werden." In der Stellungnahme gesteht er ein, nicht jeden einzelnen Schritt der Datenauswertung in seiner Studie beschrieben und durch Videoaufnahmen dokumentiert zu haben. Der Forscher steht aber nach wie vor zu seiner Methode und den Studienergebnissen.

"Es ist ja mehrfach gezeigt worden, dass das möglich ist", sagte er am Donnerstag nach einem Forschungssymposium in Tübingen. Er wolle die Studie, anders als von der DFG gefordert, daher auch nicht zurückziehen. Für ihn sei aber klar, dass seine Forschung in Zukunft nicht mehr in Deutschland stattfinden werde. "Ich werde die Universität Tübingen verlassen." Parallel zur DFG hat die Universität Tübingen ein Disziplinarverfahren gegen Birbaumer eingeleitet. Wann dieses zu einem Ergebnis kommt, ist derzeit nicht bekannt. Eine Kommission hatte bereits im Juni dem Rektorat vorgeschlagen, seinen Status als Seniorprofessor zu prüfen.

Als Reaktion auf die erste Veröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung im Frühjahr schickte Niels Birbaumer eine Stellungnahme, in der er den Autoren des Artikels "sachliche Inkompetenz" vorwarf. Die Aussagen anderer Wissenschaftler, die seiner Studie massive Fehler bescheinigten, bezeichnete er als "sensationslüsterne Verleumdungen". Die Affäre ist unter anderem aufgrund der Prominenz des Wissenschaftlers brisant. Der 74-Jährige hat in vielen Bereichen der Psycho-Physiologie ausgezeichnete Wissenschaft betrieben.

Es geht nicht nur um Details einer fragwürdigen Publikation, sondern um enorme ethische Implikationen. ALS-Patienten, die davon ausgehen müssen, in einen Zustand der kompletten Isolation zu geraten, machen ihre Patientenverfügungen womöglich davon abhängig, ob sie im Zustand völliger Lähmung noch kommunizieren können.

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