Bei so viel Vergänglichkeit dachte der Archäologe an die Bibel: "Heutzutage erinnert man sich unwillkürlich beim Betrachten des weiten Ruinenfeldes an die Worte des Propheten Jeremias (50,39): ,Darum sollen Wildkatzen und Schakale darin wohnen und die jungen Strauße, und soll nimmermehr bewohnet werden und niemand drinnen hausen für und für'."
So schreibt Robert Koldewey über das, was er 1912 entdeckt; das ist es, was vom Turm zu Babel übrig blieb: ein paar Mauerstümpfe aus dunkelbraunen Lehmziegeln, die aus dem schlammigen Boden ragen. Das Wahrzeichen menschlichen Größenwahns, der Turm, der zum Himmel reichen sollte - zweieinhalb Jahrtausende später kommt jede Palme am Euphratufer den Wolken näher als dieser Ziegelhaufen.
Dreizehn Jahre, seit 1899, gräbt der deutsche Architekt und Archäologe Robert Koldewey da schon in Babylon. Dreizehn Jahre, in denen die Öffentlichkeit zu Hause in Berlin, allen voran der orientbegeisterte Kaiser Wilhelm II., fieberhaft auf neue Nachrichten wartet. Spektakuläre Funde erhoffen sie sich, besser gesagt: spektakuläre Funde endlich auch von einem Deutschen, die, in Berlin ausgestellt, den Ruhm des Kaiserreichs mehren sollen.
Denn der große Wettlauf der europäischen Kolonialmächte um die Erforschung der mesopotamischen Antike ist längst eröffnet. Die Vitrinen im Pariser Louvre füllen sich mit orientalischen Schätzen. Im British Museum in London hängen schon riesige Reliefplatten aus den Königspalästen der Assyrer, und steinerne Wächterfiguren mit Flügeln, knapp vier Meter hoch, halb Mensch, halb Löwe, begrüßen die Besucher.
Deshalb ist Robert Koldewey in Babylon, rund 90 Kilometer südlich von Bagdad, und gräbt in der Erde auf der Suche nach den Überresten der berühmten Stadt. Sie war einst, in den drei babylonischen Reichen (circa 1890 v. Chr. - 539 v. Chr.), laut dem griechischen Historiker Herodot "gewaltig und prächtig gebaut wie meines Wissens keine andere Stadt der Welt".
Stets eine Pfeife im Mund, trotzt Koldewey den Stechmücken am Euphratufer, erträgt die brennenden Bagdad-Beulen auf der Haut, die so hässliche Narben hinterlassen. Die hohen Wangen schützt der dichte Vollbart vor der Sonne. Aber vor den neugierigen Besuchern aus Europa schützt er nicht.
Koldewey rast mit dem Motorrad übers Ausgrabungsgelände - im tadellosen weißen Leinenanzug
Adlige Abenteurer, Diplomaten, bibelfeste Orientreisende und aus seiner Sicht am schlimmsten: Frauen, die Koldeweys Mitarbeiter von der Arbeit ablenken könnten - sie alle wollen sehen, wie es zugeht auf der größten Ausgrabung ihrer Zeit. Sie wollen dabei sein, wenn Robert Koldewey das sagenumwobene Babylon aushebt, diesen mythenüberladenen Ort, Sinnbild für größenwahnsinnige Könige, antiker Megamoloch voll Sprachwirrwarr und Missgunst.
So zumindest steht es in der Bibel, die - wegen der babylonischen Gefangenschaft der Stämme Judäas im sechsten Jahrhundert v. Chr. - das denkbar schwärzeste Bild der Metropole und des Reiches zeichnet, dessen Mittelpunkt sie war. Aber an das Sündenbabel des Alten Testaments erinnert der Ort im Jahre 1912 wahrlich nicht, eher an eine betriebsame Großbaustelle.
Koldewey rast mit dem Motorrad über das riesige Ausgrabungsgelände, immer im tadellosen weißen Leinenanzug. Etwa 200 Arbeiter, Beduinen aus den umliegenden Dörfern, beaufsichtigt er. Mit einer Handvoll deutscher Architekten, meist nicht mehr als drei oder vier, dokumentiert und sortiert er seit dem Frühjahr 1899 ohne Pause, was die Arbeiter freilegen.
Jeden Tag graben sie sich weiter durch das rund 3,5 Quadratkilometer große Gelände. Manche Bauten liegen bis zu 20 Meter unter der Erde. Die Arbeiter schaffen tonnenweise Schutt beiseite. Eine eigens gebaute Feldbahn hilft ihnen dabei.
Was sie freilegen, ist atemberaubend. Massive Mauern aus Ziegelsteinen, gut erhaltene Toranlagen, zehn Meter und höher, oder Palastwände aus blauglasierten Ziegeln mit Tierreliefs, die schreitende Löwen und Stiere darstellen.
Träger bringen Hunderttausende dieser Ziegelsteine in den Hof des Expeditionshauses, "im Laufschritt", wie Grabungsleiter Koldewey fordert. Er ist erbarmungslos gegen sich und gegen die anderen: "Wer krank ist, wird entweder gesund, oder er stirbt."