Einen klaren Beleg für diese Hypothese gibt es bislang nicht, doch für die Forscher ist der Gedanke mehr als reine Spekulation. "Wir kennen solche Strukturen aus klassischen griechischen und römischen Familien, wo Bedienstete oder Sklaven ebenfalls Teil der Familie waren, aber einen anderen sozialen Status hatten", sagt Stockhammer. Die Funde aus dem Lechtal zeigen, dass es bereits mehr als 1500 Jahre früher Hierarchien zumindest im privaten Bereich gab. "Das zeigt, wie lang die Geschichte sozialer Ungleichheit in Familienstrukturen zurückreicht", so Stockhammer. Die reiche Kernfamilie vererbte ihren Besitz und Status weiter. Von den möglichen Nachfahren ärmerer Menschen finden sich dagegen keine Spuren.
Es ist weltweit die erste Studie, die regional so hochaufgelöst in die Vergangenheit blickt. Noch nie zuvor war es gelungen, mit Hilfe genetischer Daten einen Stammbaum der Vorgeschichte über einen derart langen Zeitraum zu rekonstruieren. "Wir hätten es bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten, dass wir einmal Heiratsregeln, soziale Struktur und Ungleichheit in der Vorgeschichte untersuchen können", sagt Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Demnach konnten die bronzezeitlichen Bauern aus dem Lechtal über sieben Jahrhunderte ein stabiles System etablieren. Ihre Haushalte bestanden ausnahmslos aus einer Kernfamilie mit männlichem Erbfolgesystem, angesehenen Frauen, die aus der Ferne einheirateten und einer Gruppe von Helfern mit niedrigem Status.
Die Frauen aus der Fremde brachten womöglich wertvolles Spezialwissen mit
Eine Personengruppe gibt den Forschern jedoch große Rätsel auf: Frauen von hohem sozialem Status, die offenbar nicht zu Heiratszwecken aus der Ferne kamen, denn sie blieben der Studie zufolge sämtlich ohne Nachwuchs, oder ihr Nachwuchs wurde schon im Kleinkindalter weggeschickt. Jedenfalls fand man unter den bestatteten Toten keine mit ihnen verwandte Personen. Praktisch in jedem Gehöft gab es solche Frauen, in zwei Bauernhöfen lebten sogar zwei zugereiste Schwestern. "Die Rolle dieser kinderlosen Frauen ist rätselhaft", sagt Stockhammer.
Überreste einer Frau, die einst im Lechtal lebte: Die Grabbeigaben belegen ihren hohen sozialen Status
(Foto: ABK Süd)Aufgewachsen sind sie sehr wahrscheinlich in einer mindestens 400 Kilometer entfernten Region, wie Strontiumisotopenwerte verraten, in der Gegend rund um das heutige Halle oder Leipzig oder im Prager Raum. In diesen Regionen gab es Metallurgiezentren, die der sogenannten Aunjetitzer Kultur zuzurechnen sind, wichtige technologische Hotspots für die Herstellung von Bronze. Dort begannen die Spezialisten - darunter offenbar sehr viele Frauen - früher als anderswo, Bronze in Formen zu gießen und nicht mehr zu hämmern. Ein Meisterstück dieser Kultur ist die inzwischen weltbekannte Himmelsscheibe von Nebra.
In einer früheren Arbeit hatte die Forschergruppe um Krause und Stockhammer bereits gezeigt, dass die Frauen aus der Fremde sehr wahrscheinlich eine entscheidende Rolle beim Transfer von Wissen hatten. Eine Erklärung für die Befunde aus dem Lechtal könnte also sein, dass die Menschen der frühen Bronzezeit überregionale Netzwerke aufbauten, um diese Weitergabe von Know-how und auch den sonstigen Austausch von Waren zu organisieren, und dass sie die über Hunderte von Kilometern angelegten Netzwerke bewusst durch Heiraten und institutionalisierte Formen von Mobilität pflegten und festigten. Frauen gingen dabei auf Wanderschaft, Männer blieben.
Warum dieses stabile System nach mehr als 700 Jahren zusammenbrach, ist noch unklar. Jedenfalls kamen um 1700 vor Christus neue Bevölkerungsgruppen ins Lechtal, sie siedelten zunächst zwischen den teilweise uralten Bauernhöfen. Diese Menschen hatten offenbar eine ganz andere Vorstellung vom Leben, ihnen gehörte aber die Zukunft. Denn nach ihrer Ankunft verschwand die alte Lechtaler Bauerngemeinschaft.