Archäologie:Gemetzel in der Bronzezeit

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Darstellung der norddeutschen Schlacht im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale (Foto: Felix Abraham/imago)

Vor 3250 Jahren kämpften im Tollensetal Tausende Krieger um einen Flussübergang. Archäologen rätseln: Wer waren die ominösen Mächte, die hier aufeinanderprallten?

Von Hans Holzhaider

Knochen, nichts als Knochen. Auf den zusammengeschobenen Tischen, in den Regalen an den Wänden - Knochen, Knochen, Knochen. Große Oberschenkelknochen, Schienbeine, Rückenwirbel, Rippen, Schulterblätter, Ellen und Speichen, Schlüsselbeine. Und Schädel. Jede Menge Schädel. Sie sind dunkel verfärbt, manche fast schwarz. Das kommt, weil sie mehr als 3000 Jahre lang im Moor lagen.

Schloss Wiligrad am Schweriner See, das Hauptquartier der Archäologieabteilung des Landesamts für Kultur und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern. Das ist das Reich von Detlef Jantzen, dem Landesarchäologen. Zusammen mit Thomas Terberger (früher Universität Greifswald, jetzt Landesamt für Denkmalpflege in Hannover) leitet er die Forschungen an einem der spannendsten archäologischen Fundorte Europas: dem Tal des Flüsschens Tollense in Vorpommern.

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Ausgrabungen in Mecklenburg-Vorpommern geben Hinweise auf einen Kampf, der vor mehr als 3000 Jahren stattgefunden hat.

An den Kämpfen im Tollensetal waren wahrscheinlich bis zu 4000 Männer beteiligt

1996 hatten die Amateurarchäologen Hans-Dietrich Borgwardt und dessen Sohn Ronald dort die ersten sensationellen Funde gemacht: einen Oberarmknochen, in dem eine Pfeilspitze aus Feuerstein steckte, und zwei hölzerne Keulen, geformt wie ein Baseballschläger und ein Poloschläger, beide fantastisch erhalten. Die Radiokarbondatierung ergab ein Alter der Fundstücke von 3250 Jahren; sie stammten also aus der Zeit um das Jahr 1250 vor Christus. 2008 begannen Jantzen und Terberger, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, mit systematischen Grabungen im Tollensetal. Die sind jetzt vorerst abgeschlossen, nun läuft die langwierige Auswertung der Fundstücke. Aber schon jetzt steht fest: Das Ereignis, von dem die Knochen und die Metallfunde im Tollensetal zeugen, ist bislang einzigartig in der Geschichte der europäischen Bronzezeit: eine Schlacht, bei der mehrere Hundert Menschen getötet wurden und an der möglicherweise mehrere Tausend Kämpfer beteiligt waren.

Das Jahr 1250 vor Christus: Im Nahen Osten existieren bereits hoch entwickelte Staaten. In Ägypten herrscht der Pharao Ramses II. Das Reich der Hethiter in Kleinasien befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. 1274 hat der Hethiterkönig Muwatalli II. den Ägyptern in der Schlacht bei Kadesh eine herbe Niederlage beigebracht, die allerdings von Ramses' Propagandisten in einen glorreichen Sieg umgedeutet wurde. 1259 schließen Hethiter und Ägypter einen Friedensvertrag, der ein halbes Jahrhundert lang Bestand hat; er wird in ägyptischen Hieroglyphen und hethitischer Keilschrift ausgefertigt.

Europa, und besonders Nordeuropa, ist noch weit von einer solchen kulturellen Hochblüte entfernt. Die Menschen, die hier leben, kennen noch keine Schrift. Noch nirgends gibt es Anzeichen einer staatlichen Organisation. In den Ländern an den Küsten der Nord- und Ostsee gibt es keine Spuren von Befestigungsanlagen oder auch nur größeren Ansiedlungen. "Wir rechnen mit einer Bevölkerungsdichte von drei bis fünf Personen pro Quadratkilometer", sagt Detlef Jantzen, "das wären 70 000 bis 115 000 Menschen auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern."

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Von Hans Holzhaider

Sie lebten in einzelnen, allein stehenden Häusern, sie betrieben Landwirtschaft und Viehzucht, sie bestatteten bedeutende Persönlichkeiten in Hügelgräbern. Über ihre soziale und politische Struktur, über ihre religiösen Vorstellungen weiß man fast nichts. Gab es Familienclans, gab es Stämme, gab es Häuptlinge? Wer hätte unter diesen Umständen die Macht gehabt, Hunderte oder gar Tausende Männer in eine Schlacht zu führen? Gegen wen? Und mit welchem Ziel? Eine nahezu absurde Vorstellung.

Das war der Grund, warum Detlef Jantzen und seine Kollegen kaum fassen konnten, was da nach und nach aus dem torfigen Untergrund des Tollensetals ans Tageslicht kam. Die ersten Funde ließen sich noch als Zeugnisse eines lokalen Scharmützels deuten - ein außer Kontrolle geratener Nachbarschaftsstreit vielleicht, oder eine Fehde zwischen zwei Clans, vielleicht wegen eines Viehdiebstahls oder auch einer Blutrache. Aber schon nach der ersten systematischen Grabung schied diese Möglichkeit aus. Auf nur 300 Quadratmetern fanden die Archäologen die Überreste von 77 Menschen.

"Wir haben erst etwa zehn Prozent der infrage kommenden Fläche ausgegraben", sagt Detlef Jantzen, "und wenn man die Zahl der bisher gefundenen Individuen hochrechnet, kommt man auf sieben- bis achthundert Tote." Wenn man dann den Erfahrungswert zugrundelegt, dass in einer Schlacht mit den damals verfügbaren Waffen nur etwa ein Fünftel der Beteiligten den Tod findet, dann könnten drei- bis viertausend Menschen an der Schlacht im Tollensetal beteiligt gewesen sein. "Das war keine lokale Fehde", sagt Jantzen, "da muss man schon eher an die Großmächte der Bronzezeit denken." Nur: Über Großmächte im bronzezeitlichen Europa weiß man bisher nichts.

Überwiegend waren es Schädel und schwere Langknochen, die im Tollensetal gefunden wurden; kleinere Hand- und Fußknochen und Rippen kamen nur selten zutage. Die Knochen lagen nicht mehr im Skelettverbund, sondern verschoben, in mehreren zerstreuten Haufen. Zwischen den menschlichen Knochen wurden auch Knochen von mindestens vier Pferden gefunden. Die Fundschicht liegt nur etwa einen Meter unter der heutigen Oberfläche. So hoch ist der Moorboden im Lauf von 3500 Jahren gewachsen; diesem Umstand ist der hervorragende Erhaltungszustand der Knochen zu verdanken.

Die Details der Schlacht verblüffen die Forscher

Zwischen den Knochen lagen steinerne und bronzene Pfeilspitzen. Andere, größere Metallobjekte bargen Taucher aus dem Flussbett der Tollense: Lanzenspitzen, Messer, Sicheln, "aber auch einige Dinge, die nicht zum Bild einer kriegerischen Auseinandersetzung passen", sagt Jantzen: eine Gewandnadel, eine kleine Gürteldose, wie sie von Frauen getragen wurden. Große Metallwaffen und wertvollere Schmuckgegenstände fehlen, mit wenigen Ausnahmen: ein Bronzeschwert, einige Goldspiralringe und zwei Spiralringe aus fast reinem Zinn - ein Fund, der die besondere Aufmerksamkeit der Forscher erregte. Zinn war ein begehrtes und seltenes Metall, das zur Herstellung von Bronze benötigt wurde, aber es ist in reiner Form selten erhalten, weil es häufig durch die Zinnpest, einen chemischen Umwandlungsprozess, zerstört wird. Ein geringer Zusatz von Blei hat die Zinnringe aus dem Tollensetal vor der Zerstörung bewahrt.

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Vom ersten Grabungsfeld direkt am Flussufer legten die Archäologen einen Schnitt quer über eine vom Fluss umschlossene Halbinsel, und schon nach wenigen Metern stießen sie auf die bis dahin dichteste Ansammlung von Gebeinen: 1478 Knochen auf nur zwölf Quadratmetern, darunter mehr als 20 Schädel. Was konnte hier geschehen sein? Hatten die Sieger die Leichen der Besiegten auf einen Haufen geworfen? Hatte sich eine kleine Gruppe von Kämpfern gegen eine Übermacht verteidigt und war bis auf den letzten Mann niedergemetzelt worden?

In Schloss Wiligrad versuchen Ute Brinker und Annemarie Schramm, den Knochen ihre Geschichte zu entlocken. Einige sprechen eine sehr deutliche Sprache: Ein kreisrundes Loch im Hinterkopf, groß wie eine Kinderfaust: Das war ein Schlag mit einer hammerartigen Waffe, möglicherweise einer Holzkeule, wie Ronald Borgwardt sie damals gefunden hat. In einem Schädelknochen steckt noch eine bronzene Pfeilspitze, drei Zentimeter tief ist sie in das Gehirn eingedrungen. Ein Schienbeinkopf mit einer tiefen Schnittfurche - das dürfte ein Schwerthieb gewesen sein.

Andere Spuren erschließen sich nicht so leicht. Ein Lendenwirbel mit einem kleinen, kreuzförmigen Einschnitt im Wirbelkörper, als ob da einer mit einem Kreuzschlitzschraubenzieher zugestochen hätte: Das ist die Spur einer Bronzepfeilspitze. Viele Verletzungsspuren sind mikroskopisch klein - winzige Absplitterungen oder Einkerbungen. Andere sind unübersehbar groß und trotzdem schwer zu deuten. Ein Oberschenkelknochen, der vom Oberschenkelhals abwärts diagonal gespalten ist.

Zwei Wissenschaftlerinnen vom Archäologischen Institut der Universität Hamburg gehen einen ganz neuen Weg, um solche Verletzungsspuren zu deuten. Hella Harten-Buga und Melanie Schwinning haben Ingenieurwissenschaften studiert, ehe sie sich der Archäologie zuwandten. Jetzt rekonstruieren sie anhand von virtuellen 3-D-Modellen, die aus computertomografischen Aufnahmen und aus Datenbanken über die Materialeigenschaften von Knochen entwickelt wurden, die mechanischen Abläufe, die zu einer Verletzung geführt haben könnten. So konnten sie nachweisen, dass der Mann mit dem gebrochenen Oberschenkel nicht, wie zunächst angenommen, von einem Pferd gestürzt war, sondern dass der Knochen unter Einwirkung einer spitzen Waffe, wahrscheinlich einer Lanze, regelrecht auseinandergesprengt wurde.

Das alles sind einzelne Puzzleteile, die sich vielleicht irgendwann einmal zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen von dem, was sich vor 3500 Jahren im Tollensetal ereignet hat. Viele Teile fehlen noch. Die Auswertung der DNA-Strukturen, die aus den Knochen gewonnen wurden, und der Strontiumisotopenanalysen aus dem Zahnschmelz ist noch nicht abgeschlossen. Sie reicht noch nicht aus, um sichere Aussagen über die Herkunft der Kämpfer zu machen, deren Überreste jetzt auf den Tischen und in den Regalen im Schloss versammelt sind. Die starke Streuung der Strontiumwerte deutet auf unterschiedliche Herkunftsgebiete.

Waren es Krieger aus dem Voralpenland, die in den Mooren Vorpommerns starben?

Auch andere Indikatoren liefern keine eindeutigen Hinweise auf die Herkunft der Menschen, die bei der Schlacht im Tollensetal zu Tode kamen. Das in menschlichen Skelettresten gefundene Kohlenstoffisotop d13C zum Beispiel gilt als Indikator für den Anteil von Hirse an der Ernährung. Etliche der Gefallenen im Tollensetal müssen sich demnach maßgeblich von diesem Getreide ernährt haben. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie aus südlichen Gegenden, etwa aus dem Voralpengebiet stammten, wo schon seit der Jungsteinzeit Hirseanbau belegt ist. Andererseits wurden auch bei einzelnen Skelettfunden im Gebiet der Mecklenburgischen Seenplatte hohe d13C-Werte ermittelt. Es lässt sich derzeit also nur feststellen, dass sowohl einheimische als auch nicht einheimische Kämpfer an dem Konflikt beteiligt gewesen sein können.

Einen Fingerzeig auf eine mögliche Ursache des Konflikts hat eine geophysikalische Untersuchung erbracht, die von der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts durchgeführt wurde. Die Knochen- und Metallfunde im Tollensetal erstrecken sich über etwa drei Kilometer. An ihrem südlichsten, also am weitesten flussaufwärts gelegenen Punkt entdeckten die Forscher die Überreste eines befestigten Flussübergangs. Eingeschlagene Holzpfähle, darüber zwei Lagen Holzbohlen und eine Sandaufschüttung - "ein solide gebauter Damm", sagt Detlef Jantzen. Dendrochronologisch, also durch eine Untersuchung der Jahresringe der beim Bau verwendeten Baumstämme, wurde ermittelt, dass mit dem Bau dieses Dammes schon um 1700 vor Christus begonnen wurde, mehr als 400 Jahre vor der Schlacht.

"Das war ein Augenöffner", sagt Jantzen. "Wir hatten es nicht für möglich gehalten, dass es hier seit so langer Zeit einen befestigten Weg gab." Das deutet auf einen regelmäßigen Verkehr, nicht nur von Reisenden zu Fuß, sondern möglicherweise auch mit Wagen, von Pferden gezogen. Ein Flussübergang an einer viel befahrenen Straße war sicher ein strategisch wichtiger Punkt, der vielleicht von einer kleinen Mannschaft bewacht wurde. Man könnte sich also ein Szenario vorstellen: Ein größerer Trupp bewaffneter Kämpfer, einige von ihnen zu Pferd, nähert sich der Furt, stößt auf Widerstand, weicht flussabwärts aus, wird erneut angegriffen, die Verteidiger alarmieren Verstärkung, ein Gemetzel hebt an. Aber wer die Angreifer waren, was sie wollten, wer die Macht hatte, in diesem dünn besiedelten Land so viele kampffähige Männer zu rekrutieren - das sind noch ungelöste Rätsel. "Wir haben keinerlei schriftliche oder bildliche Überlieferung aus dieser Zeit", sagt Jantzen.

Mit einer Ausnahme: das Horn von Wismar. Es wurde schon im 19. Jahrhundert im Moor nahe der Hansestadt gefunden; nur die bronzenen Beschläge des Blasinstruments sind erhalten, sie stammen etwa aus derselben Zeit wie die Funde im Tollensetal. Man sieht darauf Spiralornamente, Speichenräder, Schiffe (oder Schlitten) - und zwei stehende Figuren mit Schild und Speer. Vielleicht wurde auf einem Horn wie diesem zum Angriff im Tollensetal geblasen.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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