Menschheitsgeschichte:4000 Jahre Ungleichheit

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Vor allem Frauen gingen vor 4000 Jahren auf Wanderschaft, die Männer blieben. (Foto: Tom Björklund)
  • Funde im Lechtal südlich von Augsburg zeigen, dass es bereits vor rund 4000 Jahren deutliche soziale Unterschiede gab.
  • Das berichten Archäologen im Fachmagazin Science.
  • Demnach vererbten reiche Familien ihren Besitz und Status an männliche Nachkommen weiter. Daneben gab es eine Gruppe mit niedrigem sozialen Status, möglicherweise Gesinde oder gar Sklaven.
  • Eine dritte Gruppe ist besonders rätselhaft: Frauen, die aus der Ferne in die Haushalte zuwanderten und selbst ohne Nachkommen blieben.

Von Hubert Filser

Aus der Ferne wirkte die Szenerie vor rund 4000 Jahren vermutlich wie eine bäuerliche Idylle. Auf der östlichen Seite des Lechtals lagen damals wie an einer Perlenschnur aufgereiht zwanzig Bauernhöfe in Sichtweite zueinander, verteilt über eine Strecke von gut zwanzig Kilometern, am Westufer Richtung Wertach kamen fünf weitere dazu. Die frühen Bauern hatten die mächtigen Langhäuser mit meist ein oder zwei Nebengebäuden am Rand der fruchtbaren Lössböden gebaut. "Von einem Hof aus konnte man sehen, wie die Kinder auf dem Nachbarhof spielten", sagt Philipp Stockhammer. Doch ausgerechnet in dieser Umgebung fand der Archäologe von der LMU München gemeinsam mit seinen Kollegen aus Jena und Tübingen die frühesten Belege für deutliche soziale Ungleichheit innerhalb eines Haushalts. In den bronzezeitlichen Hütten im Lechtal gab es bereits eine Drei-Klassen-Gesellschaft, berichten die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Science.

Es ist der bislang älteste Nachweis für soziale Unterschiede innerhalb einer Familie in der Vorgeschichte. Demnach lebten wohlhabende Gutsbesitzer-Familien im selben Haushalt mit sozial niedriger gestellten Personen, möglicherweise Gesinde oder gar Sklaven, und aus der weiten Ferne zugezogenen Frauen ohne Kinder. Diese waren offenbar mit niemandem auf dem Hof verwandt; sie genossen aber wie die Besitzer hohes Ansehen, wie ihre reich ausgestatteten Gräber belegen.

Die Gräber der männlichen Erben waren teilweise reich ausgestattet, etwa mit Dolchspitzen (Foto: K. Massy)

Seit einigen Jahren graben die Archäologen südlich von Augsburg bronzezeitliche Gräberfelder entlang des Lechs aus. Sie haben dabei Überreste von fast 400 Menschen aus der Zeit zwischen 2500 und 1700 vor Christus entdeckt, allesamt einstige Bewohner der jeweils benachbarten Bauernhöfe. Wie Genanalysen belegen, sind die Bauern Nachfahren einstiger Steppenbewohner, die im frühen 3. Jahrtausend vor Christus aus dem Bereich der heutigen Ukraine nach Europa eingewandert waren und dort am Rand fruchtbarer Lössböden ihre typischen Langhäuser errichtet hatten. Darin lebten bis zu zehn Personen, auch das Vieh war dort untergebracht.

Die Forscher unter Leitung von Philipp Stockhammer sowie Johannes Krause und Alissa Mittnik vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena kombinierten für ihre Untersuchung archäologische und genetische Befunde mit Isotopenanalysen. "Wir wollten klären, wie der Beginn der Bronzezeit und damit eine neue Technologie das soziale Gefüge verändert hat", erklärt Stockhammer. Neben Grabbeigaben wie Schmuck oder Waffen aus Bronze, die Hinweise auf den Status der Toten geben, werteten die Wissenschaftler vor allem das Erbgut der Toten aus. Obwohl viele der Knochen der sorgsam bestatteten Toten über die Jahrtausende im Schotterbett des Lechs langsam zu Bruch gegangen und nur noch fragmentarisch vorhanden waren, blieb die DNA in vielen Fällen erstaunlich gut erhalten. Für immerhin 104 der 400 Individuen konnten die Forscher so gute genetische Daten generieren. So ließen sich für sechs Bauernhöfe zum Teil praktisch lückenlose Stammbäume über fast zwei Jahrhunderte erstellen.

Die ärmlich bestatteten Hofbewohner waren nie mit den Gutsbesitzern verwandt

Die Analysen belegen eine komplexe, gefestigte Sozialstruktur in den Haushalten am Übergang von der Steinzeit zur Bronzezeit. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein kurzfristiges Phänomen. "Wir sehen, dass über eine Zeit von 700 Jahren jeweils die männlichen Nachkommen gemeinsam den Hof erbten und vor Ort blieben, gleichzeitig verschwanden ausnahmslos alle weiblichen Nachfahren ab einem heiratsfähigen Alter von 16 oder 17 Jahren, sie verließen sogar das Lechtal", sagt Stockhammer. "Offenbar gab es in der Bronzezeit in Süddeutschland über Jahrhunderte hinweg stabile Verhältnisse." Die jungen Männer wiederum heirateten ebenfalls ausschließlich Frauen, die von außerhalb kamen. Dies zeigen Strontiumisotopen-Analysen an den Überresten der Frauen. Strontium ist in der Nahrung enthalten, je nach Gegend lagern sich unterschiedliche Isotope im Zahnschmelz ab.

Damit nicht genug: Sämtliche Hofbewohner, die eher ärmlich oder ganz ohne Grabschmuck bestattet worden waren, stammten vermutlich aus dem Lechtal und waren in keinem Fall mit den Hofbesitzer-Familien verwandt. "Wir können leider nicht sicher sagen, ob es sich bei diesen Individuen um Knechte und Mägde oder vielleicht sogar eine Art von Sklaven gehandelt hat", sagt Alissa Mittnik.

Einen klaren Beleg für diese Hypothese gibt es bislang nicht, doch für die Forscher ist der Gedanke mehr als reine Spekulation. "Wir kennen solche Strukturen aus klassischen griechischen und römischen Familien, wo Bedienstete oder Sklaven ebenfalls Teil der Familie waren, aber einen anderen sozialen Status hatten", sagt Stockhammer. Die Funde aus dem Lechtal zeigen, dass es bereits mehr als 1500 Jahre früher Hierarchien zumindest im privaten Bereich gab. "Das zeigt, wie lang die Geschichte sozialer Ungleichheit in Familienstrukturen zurückreicht", so Stockhammer. Die reiche Kernfamilie vererbte ihren Besitz und Status weiter. Von den möglichen Nachfahren ärmerer Menschen finden sich dagegen keine Spuren.

Es ist weltweit die erste Studie, die regional so hochaufgelöst in die Vergangenheit blickt. Noch nie zuvor war es gelungen, mit Hilfe genetischer Daten einen Stammbaum der Vorgeschichte über einen derart langen Zeitraum zu rekonstruieren. "Wir hätten es bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten, dass wir einmal Heiratsregeln, soziale Struktur und Ungleichheit in der Vorgeschichte untersuchen können", sagt Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Demnach konnten die bronzezeitlichen Bauern aus dem Lechtal über sieben Jahrhunderte ein stabiles System etablieren. Ihre Haushalte bestanden ausnahmslos aus einer Kernfamilie mit männlichem Erbfolgesystem, angesehenen Frauen, die aus der Ferne einheirateten und einer Gruppe von Helfern mit niedrigem Status.

Die Frauen aus der Fremde brachten womöglich wertvolles Spezialwissen mit

Eine Personengruppe gibt den Forschern jedoch große Rätsel auf: Frauen von hohem sozialem Status, die offenbar nicht zu Heiratszwecken aus der Ferne kamen, denn sie blieben der Studie zufolge sämtlich ohne Nachwuchs, oder ihr Nachwuchs wurde schon im Kleinkindalter weggeschickt. Jedenfalls fand man unter den bestatteten Toten keine mit ihnen verwandte Personen. Praktisch in jedem Gehöft gab es solche Frauen, in zwei Bauernhöfen lebten sogar zwei zugereiste Schwestern. "Die Rolle dieser kinderlosen Frauen ist rätselhaft", sagt Stockhammer.

Überreste einer Frau, die einst im Lechtal lebte: Die Grabbeigaben belegen ihren hohen sozialen Status (Foto: ABK Süd)

Aufgewachsen sind sie sehr wahrscheinlich in einer mindestens 400 Kilometer entfernten Region, wie Strontiumisotopenwerte verraten, in der Gegend rund um das heutige Halle oder Leipzig oder im Prager Raum. In diesen Regionen gab es Metallurgiezentren, die der sogenannten Aunjetitzer Kultur zuzurechnen sind, wichtige technologische Hotspots für die Herstellung von Bronze. Dort begannen die Spezialisten - darunter offenbar sehr viele Frauen - früher als anderswo, Bronze in Formen zu gießen und nicht mehr zu hämmern. Ein Meisterstück dieser Kultur ist die inzwischen weltbekannte Himmelsscheibe von Nebra.

In einer früheren Arbeit hatte die Forschergruppe um Krause und Stockhammer bereits gezeigt, dass die Frauen aus der Fremde sehr wahrscheinlich eine entscheidende Rolle beim Transfer von Wissen hatten. Eine Erklärung für die Befunde aus dem Lechtal könnte also sein, dass die Menschen der frühen Bronzezeit überregionale Netzwerke aufbauten, um diese Weitergabe von Know-how und auch den sonstigen Austausch von Waren zu organisieren, und dass sie die über Hunderte von Kilometern angelegten Netzwerke bewusst durch Heiraten und institutionalisierte Formen von Mobilität pflegten und festigten. Frauen gingen dabei auf Wanderschaft, Männer blieben.

Warum dieses stabile System nach mehr als 700 Jahren zusammenbrach, ist noch unklar. Jedenfalls kamen um 1700 vor Christus neue Bevölkerungsgruppen ins Lechtal, sie siedelten zunächst zwischen den teilweise uralten Bauernhöfen. Diese Menschen hatten offenbar eine ganz andere Vorstellung vom Leben, ihnen gehörte aber die Zukunft. Denn nach ihrer Ankunft verschwand die alte Lechtaler Bauerngemeinschaft.

© SZ vom 14.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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