Ahnenkult:Den teuren Toten

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Dutzende geschlachtete Tiere für einen Toten: Den Ahnenkult lassen sich manche Gesellschaften enorm viel kosten. Das lässt vermuten, dass die Menschen einen guten Grund für ihr bizarres Verhalten haben.

Von Christian Weber

Fast nirgendwo auf der Welt ist es so schwierig, einem Verstorbenen einen guten Platz im Jenseits zu verschaffen wie beim Volk der Toraja in den Bergen Zentral-Sulawesis. Denn der Weg ins Totenland Puya ist weit. So muss die Seele des Verblichenen eine wackelige Brücke über einen Fluss bezwingen, wo die gefährliche Katze Bali Karoe versucht, die Reisenden zu überfallen. Wer in den Fluss fällt, wird zwischen den Welten herumirren und womöglich die Lebenden bedrohen.

Damit die wandernde Seele überhaupt eine Chance hat, ihr Ziel zu erreichen, muss ein Begräbnisritual gemäß den überlieferten Regeln abgehalten werden. Das ist recht aufwendig: Für einen sozial hochgestellten Toraja dauert so eine Feier schon mal eine Woche oder länger, wobei die besten 1000 Freunde und Verwandte eingeladen, untergebracht und bewirtet werden wollen. Zu der Gelegenheit werden Dutzende von Schweinen und um die zehn Büffel als Opfer und Mahl geschlachtet. So kommt es vor, dass die Kosten einer solchen Veranstaltung die Hinterbliebenen ein Leben lang finanziell ruinieren.

Wo die Toten gewendet werden

Auch in Madagaskar bringen die Toten die Lebendigen ins Schwitzen. In den traditionellen Dörfern wird immer noch das Ritual der Famadihana gepflegt, das Totenwendungsfest. Bei diesem Ereignis, das mindestens alle zehn Jahre stattfindet, werden die Skelette der Vorfahren ausgegraben, neu in kostbare Stoffe eingekleidet und dann wieder begraben. Zu der Gelegenheit wird heftig gefeiert, gern gespielt werde dabei - so berichtet der Ethnologe und Autor Nigel Barley, einst Kustos beim British Museum in London - die fast schon oktoberfesttaugliche Bierpolka: "Roll out the barrel".

Das sind nur zwei herausragende Beispiele, viele mehr ließen sich finden, insbesondere in Afrika und Asien, wo der Ahnenkult intensiv gepflegt wird. Zwei Dinge belegen sie deutlich: Erstens, der Tod eines Menschen ist in vielen Gegenden dieser Welt kein Grund, die sozialen Beziehungen zu ihm abzubrechen, ganz im Gegenteil. Zweitens: Das kommt teuer. Das wiederum lässt vermuten, dass die Menschen einen guten Grund für ihr bizarres Verhalten haben.

Sichtet man die klassische ethnologische Literatur, fällt es aber auf den ersten Blick schwer, das Gemeinsame beim Umgang mit Toten zu finden. So gibt es indigene Völker, die den Tod von Menschen geradezu ignorieren und auch Verstorbene weiter verheiraten oder als Erzeuger von Kindern betrachten.

In manchen Gesellschaften versucht man den Leichnam möglichst gut zu erhalten, vor allem wenn es sich um Führungsfiguren handelt, seien es Pharaonen im alten Ägypten oder die Lenker kommunistischer Staatsreligionen wie früher in Russland oder China. Andere wiederum wollen sichergehen, dass der Tote wirklich tot ist und überlassen den Leichnam den Geiern, verbrennen, zerstückeln ihn oder pulverisieren das Skelett. In Papua-Neuguinea ist man immerhin von der Sitte abgekommen, die Gehirne der Verstorbenen zu verzehren.

Doch kommt man ohnehin nicht zum Kern der Angelegenheit, wenn man sich allzu sehr mit der äußeren Form der Rituale beschäftigt, die den Übergang ins Totenreich begleiten. Entscheidend ist das Ergebnis: Es entstehen Ahnen, "die sich als Wächter der Moral und Agenten der sozialen Kontinuität nutzen lassen", wie es der Ethnologe John Middleton von der Yale University formuliert. Das ist wohl der entscheidende Unterschied zum Totengedenken, wie es auch von Agnostikern der Gegenwart betrieben wird. Es geht eben nicht primär um die Erinnerung an verstorbene Angehörige und Verwandte, sondern um weiterlaufende reziproke Kommunikation.

Die zentrale Annahme des Ahnenkults lautet: Die kriegen mit, was wir tun und reagieren irgendwie darauf - also Vorsicht. Deshalb sollte man die Altvorderen besänftigen und bei guter Laune halten. Man sollte ihnen regelmäßig opfern, indem man ihnen am Hausschrein - wie er etwa in Japan verbreitet ist - Essen und Trinken anbietet oder ein Räucherstäbchen anzündet. Dafür darf man sich dann auch mit Bitten an sie wenden.

Die Ahnen haben eine wachende, mitunter bedrohliche Position. Aber sie gehören noch immer zur Familie, sind also vermutlich wohlwollender als etwa jene launischen Geister, die noch nie wirklich unter den Lebenden geweilt haben, und sich - so erläutert John Middleton - "individualistisch, kapriziös und unvorhersehbar" verhalten: "Die Lebenden können über ihre Ahnen eine unmittelbarere Kontrolle ausüben als über die Geister, indem sie ihre verwandtschaftliche Beziehung betonen."

Dabei seien die Ahnen kein Selbstzweck, betont der Ethnologe. "Sie werden von den Lebenden genutzt, um gleichzeitig die konservative Autorität und moralische Ordnung aufrechtzuerhalten und um bei der geordneten Beilegung von Streitigkeiten zu helfen."

Offensichtlich sind die Ahnen für die sogenannte altruistische Bestrafung zuständig. Unter diesem Begriff verstehen Spieltheoretiker das auf den ersten Blick schwer zu erklärende Verhalten von Menschen, die andere Menschen bei Normverletzungen bestrafen, obwohl ihnen die Bestrafung nur Kosten verursacht und keinerlei materiellen Gewinn bringt. Solches Handeln ist zwar wichtig, damit kooperierende Gesellschaften entstehen, lässt sich aber nicht ohne Weiteres mit dem Egoismus vereinbaren, den Soziobiologen gemeinhin allen Lebewesen unterstellen.

Vertreter evolutionärer Religionstheorien stellten deshalb die Vermutung auf, dass die Menschen der frühen Gesellschaft genau aus diesem Grund zum ersten Mal strafende Götter erfunden haben, die sich um Normverletzer kümmern. So eine ähnliche Funktion könnten auch die Ahnen haben. Für diese These spricht, dass der Ahnenkult in jenen Kulturen stark ausgeprägt ist, wo es traditionell an ordentlichen Droh-Göttern fehlt - im buddhistischen Raum, in den Einflussgebieten des Konfuzianismus, in Afrika.

Ebenso könnte die moderne Soziobiologie erklären, wieso die Toraja in Sulawesi für ihre Ahnen derart ruinöse Rituale veranstalten. Aufgrund von Beispielen aus dem Tierreich kamen in den vergangenen Jahren Anthropologen auf die Idee, dass es vernünftig sein könnte, in eigentlich sinnlose Attribute zu investieren. Die Pracht seines Rades etwa kostet dem Pfau viel Energie, der Federschmuck zeigt aber einem potenziellen Sexualpartner, dass er stark und gesund ist. In ähnlicher Weise, so vermutet Richard Sosis von der University of Connecticut, lohnt sich der Aufwand der religiösen Rituale:

Der Gläubige demonstriert, dass er es ernst meint, kein Trittbrettfahrer ist und man sich auf ihn verlassen kann. "Dies erspart der Gemeinschaft komplizierte Überwachungsmechanismen, die sonst erforderlich wären, um Schmarotzer auszuschließen", erklärt Sosis in seiner "Theorie der teuren Signale". Die Gemeinschaft sichert sich die Mitarbeit der Starken und Treuen. Eine schöne Pointe: Auch der nur eingebildete Sozialkontakt zu Ahnen, die vermutlich zu Staub verfallen im Felsengrab liegen, kann der lebenden Gemeinschaft einen realen Dienst erweisen.

Insofern wundert es wenig, dass der indonesische Staat bis heute vergebens versucht, den teuren Totenkult der Toraja ein wenig einzudämmen. So haben die Behörden begonnen, die Opferschweine zu besteuern und den Ethnotourismus zu promoten. Bringt auch was. Den Ahnen sei Dank.

© SZ vom 27.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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