Immerhin, diesmal klappt alles. Ziemlich genau vor einem Jahr hatte Wintershall Dea schon einmal zur Vorstellung seiner Geschäftszahlen eingeladen. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen, die Einwahllinks verschickt. Doch Stunden vorher rollen russische Panzer in die Ukraine, der Krieg beginnt. "Heute ist aus unserer Sicht kein Tag, um über Bilanzzahlen zu sprechen", erklärt Wintershall Dea - und sagt das Gespräch darüber ab. Aus heutiger Sicht wirkt es wie ein Menetekel.
An diesem Donnerstag lädt der Kasseler Konzern abermals zur Zahlen-Präsentation, es ist eine Bilanz im Zeichen des Krieges. Insgesamt 4,8 Milliarden Euro Verlust weist der Konzern aus, darin sieben Milliarden Euro Minus aus der Abschreibung des kompletten Russland-Geschäfts. Gut sind die Zahlen nur, wenn man die Causa Krieg herausrechnet: Denn jenseits von Russland hat Wintershall Dea gut verdient, vor allem durch die hohen Preise für Öl und Gas. Bereinigt um Sondereffekte, darunter auch die Abschreibung, stieg der Überschuss von 403 auf 928 Millionen Euro. Aus Russland dagegen erhielt der Konzern schon seit Kriegsbeginn keine Dividenden mehr, und die Mehreinnahmen durch hohe Gaspreise schöpfte der Kreml per Dekret ab.
"Dieses Kapitel unserer Geschichte ist geschlossen", sagt der Chef
Wie kaum ein anderes Unternehmen ist Wintershall Dea von der Weltpolitik betroffen gewesen. Drei Jahrzehnte lang war der Konzern eng mit Russland verflochten. Über einen Deal mit Gazprom ist es 2015 in die Erdgasförderung in Westsibirien eingestiegen und gab dafür seine Erdgasspeicher her - eine Entscheidung, die sich später in mehrerlei Hinsicht rächen soll. Auch an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 hat sich Wintershall Dea beteiligt. Schon im März vorigen Jahres hat der Konzern dafür eine Milliarde abgeschrieben. An der Nachbar-Pipeline Nord Stream 1 dagegen hält das Unternehmen immer noch eine Beteiligung von 15,5 Prozent.
Am Donnerstag ist Wintershall-Chef Marion Mehren "kristallklar", was das Russland-Geschäft angeht. "Es gibt keine Rückkehr", sagt er. "Dieses Kapitel unserer Geschichte ist geschlossen." Vor gut einem Monat hatte das Unternehmen beschlossen, Russland "geordnet und unter Einhaltung aller anwendbaren rechtlichen Verpflichtungen zu verlassen". Wann genau das sein werde, kann Mehren aber auch einen Monat später noch nicht sagen. Das gehe nicht "über Nacht". Gleichzeitig lote man alle Möglichkeiten aus, um die Russland-Verluste zu mindern. Etwa über Investitions-Garantien, wie sie der deutsche Staat gegeben hat. "Wir werden alles tun, was möglich ist", sagt Mehren.
Doch es gibt auch Schaden, der in keiner Bilanz steht. Vor der Wintershall-Niederlassung in Berlin kippen Aktivisten am Donnerstag Kunstblut über das Konzernlogo. "Ukrainisches Blut klebt an den Händen von Wintershall Dea", sagt Svitlana Romanko von der Bewegung "Razom We Stand". Schließlich habe der Konzern im vorigen Jahr den Krieg mit Hunderten Millionen an Steuergeld befeuert. Zuletzt gab es auch Berichte über Gasderivate aus den Wintershall-Joint-Ventures, die zur Produktion von Kerosin für Kampfjets herangezogen wurden. Der Konzern wies das zurück.
Nur etwas mehr als die Hälfte der täglichen Förderung lag 2022 außerhalb Russlands
Konzernchef Mehren redet nun lieber über die Zukunft jenseits Russlands, für die sich das Unternehmen rüste. Sie soll, vereinfacht gesagt, daraus bestehen, Kohlenstoffe aus dem Boden zu holen und Kohlendioxid unter die Erde zu bringen. So sei einerseits ein "moderates Wachstum" bei der Erkundung und Förderung von Öl und Gas geplant, etwa in Ländern wie Norwegen, Mexiko, Ägypten oder Algerien. Auch im vorigen Jahr habe es hier "eine Menge positiver Entwicklungen" gegeben, sagt Mehren. Allerdings lag nur etwas mehr als die Hälfte der täglichen Förderung des Konzerns im vorigen Jahr außerhalb Russlands.
Dazu soll sich künftig vermehrt ein Geschäft gesellen, das Mehren " Carbon Management" nennt - den Umgang mit aufgefangenen Treibhausgasen. Ziel sei es, bis 2040 jährlich 20 bis 30 Millionen Tonnen Kohlendioxid einzusparen. Das entspräche rund drei bis vier Prozent der derzeitigen deutschen Emissionen. Mehrere Länder, darunter Norwegen und Dänemark, weisen gerade unterirdische Speicher aus, in denen sich CO₂ lagern ließe, oft in ehemaligen Gasreservoirs. Vor allem die deutsche Industrie ist daran interessiert: Über das sogenannte Carbon Capture and Storage, kurz CCS, ließen sich auch Emissionen wegspeichern, die sich technisch nicht vermeiden lassen. Auch die Gasindustrie hat CCS für sich entdeckt: Sie könnte dem Erdgas das CO₂ entziehen, es unterirdisch speichern - und das Endprodukt als "blauen" Wasserstoff verkaufen. "Wir schauen uns nach Speicherlizenzen um", sagt Mehren. Noch sei dieses Geschäft relativ jung.
Mehrens Botschaft an diesem Donnerstag ist klar: Wintershall Dea, der Eindruck soll entstehen, hat sich zwar in Russland zwei blaue Augen und ein paar Rippenbrüche geholt. Aber auch das geht vorbei.