Modebranche:Putins Krieg trifft die Textilindustrie in der Ukraine

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"Ich habe deine Tasche verpackt": Für eine Social-Media-Kampagne fotografierte Picard im vergangenen Jahr Frauen im ukrainischen Werk. (Foto: oh)

Der Angriffskrieg Russlands belastet auch die Hersteller von Textilien und Lederwaren. Firmen wie Boss, Brax oder Adidas lassen in der Ukraine produzieren. Viele Unternehmen haben ihre Produktion weitgehend eingestellt.

Von Elisabeth Dostert

Joachim Beer hat nicht lange gezögert. Kaum hatte am 24. Februar der Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen, "haben wir unsere drei Betriebe in der Ukraine stillgelegt", erzählt der Vorstandschef des Textilunternehmens Dr. Bock Industries im Videogespräch. Rund 500 Mitarbeiter hat die deutsche Firma in der Ukraine, etwa 90 Prozent davon sind Frauen. Mit ein paar Freiwilligen habe man noch versucht, fertige Ware zu versenden, erzählt Beer. Allen Mitarbeitern sei freigestellt worden, ob sie zur Arbeit kommen wollen oder nicht. "Die meisten wollen lieber zu Hause bleiben." Aber die Ukraine verlassen wollten die wenigsten, weil sie mit der Region verbunden seien. "Am Anfang waren sie ängstlich, allmählich entwickelt sich ein Widerstandsgeist. Und die Männer müssen in den Krieg. Unser Geschäftsführer vor Ort steht jetzt auf Abruf."

Eine Firma musste dem Militär Busse zur Verfügung stellen

In Polonne und Pulyny im Westen der Ukraine produziert das Unternehmen für Marken wie Boss, Brax Leineweber, NN07 und andere mehr, täglich 2700 Hosen. Die Betriebe liegen Beer zufolge in eher ländlichen Gebieten, die seien "nicht unbedingt das Ziel einer militärischen Aktion des Feindes. Aber man weiß nicht, was noch passiert". Und die Großstadt Schytomyr, die bombardiert wurde, sei nur eineinhalb Stunden entfernt. Vor dem Krieg seien die Mitarbeiter mit eigenen Bussen von zu Hause in die Betriebe gebracht worden. Auch das geht nicht mehr. "Wir mussten einen Teil unserer Flotte dem Militär zur Verfügung stellen." Gefährdeter sei die Wäscherei in Nowohrad-Wolynskyj, weil dort mit chemischen Hilfsstoffen gearbeitet werde und sie in der Nähe eines Militärgeländes liege. In der Wäscherei werden Textilien veredelt, also zum Beispiel gefärbt, gewaschen, gebügelt, etikettiert und verpackt, je nachdem, was der Auftraggeber bestellt hat.

In der Sowjetunion war die Ukraine ein Zentrum der Textilindustrie. Mit ihrem Zerfall sei die Branche zusammengebrochen, schreibt die Nichtregierungsorganisation Clean Cloth Campaign 2017 in einem Länderbericht. Dann habe eine Wachstumsphase eingesetzt, die mit der Finanzkrise 2008/2009 zum Stillstand kam. Der militärische Konflikt um die Annexion der Krim durch Russland 2014 setzte der Branche dann noch mal zu. Die meisten Fabriken lägen im Westen der Ukraine, einige wenige allerdings auch in den stark umkämpften Gebieten Charkiw, Tschernihiw und Sumy, so die Organisation.

Firmen wie Hugo Boss lassen in der Ukraine Teile produzieren. Seine Läden in Moskau hat der deutsche Konzern geschlossen. (Foto: Vitaliy Belousov/Imago/SNA)

Es gibt sehr unterschiedliche Angaben über die Branchengröße. Nach Angaben von Ukraine Invest, einem staatlichen Vehikel zur Investitionsförderung, gibt es mehr als 2500 Fabriken, in denen Stoffe, Bekleidung und Schuhe hergestellt werden, mit insgesamt mehr als 236 000 Beschäftigten. Als Hauptakteure nennt Ukraine Invest die Firmen Adidas, Benetton, Boss, Esprit, Marks & Spencer, Mexx, Next, s.Oliver, Tommy Hilfiger, Triumph und Zara. Nach Angaben des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie spielt die Ukraine für deutsche Unternehmen als Standort für die Konfektionierung eine "untergeordnete Rolle", wenn überhaupt gebe es einzelne Zulieferungen, etwa bei Wäsche und Berufsbekleidung.

Die Marken rechnen nicht mit Lieferengpässen

Viele Modemarken, so zeigen SZ-Anfragen, fertigen in der Ukraine nicht selbst, sie lassen fertigen. Hugo Boss, s.Oliver und Adidas arbeiten dort mit Partnern zusammen. Insgesamt mache das Produktionsvolumen in der Ukraine weniger als zwei Prozent des Beschaffungsvolumens aus, das s.Oliver nicht beziffern will. "Wir rechnen nicht mit Lieferengpässen", so die Modekette. Die drei Lieferanten von Hugo Boss stellen Freizeit- und Oberbekleidung her, wie Mäntel oder Hosen. Die Produktion mache "weniger als ein Prozent des Beschaffungsvolumens aus". Die Produktion sei wegen der aktuellen Situation "weitestgehend" eingestellt. Boss zieht auch die Möglichkeit in Betracht, Teile der Produktion in andere europäische Länder oder "in unsere eigene Produktionsstätte in Izmir zu verlagern". Ähnlich fällt die Antwort des Sportartikelherstellers Adidas aus: "Von den weltweit mehr als 500 unabhängigen Zulieferern befindet sich ein Zulieferer mit drei Standorten in der Ukraine." Der Anteil am Gesamtliefervolumen sei also sehr gering. "Mit Lieferengpässen ist daher nicht zu rechnen", so Adidas.

Anders sieht es beim deutschen Lederwarenspezialisten Picard aus, der in Mukatschewo im Westen der Ukraine 70 Prozent an einem Gemeinschaftsunternehmen mit einem ukrainischen Partner hält. Noch bekomme er die Ware aus und die Rohmaterialien ins Land, sagt Firmeninhaber Georg Picard. Das Familienunternehmen mit weltweit 1200 Mitarbeitern und rund 20 Millionen Euro Umsatz stellt dort Taschen, Brotkörbe, Hundeleinen, Gürtel und vieles mehr her. In der Ukraine arbeiten 180 Menschen für Picard, die meisten davon Frauen. Die Produktion laufe weiter, so Picard: "Das war das Erste, um das uns der Betriebsleiter gebeten hat: 'Stellt bitte nicht die Produktion ein, die Menschen hier brauchen das Geld.'" Die Preise für Lebensmittel hätten sich mehr als verdoppelt. Viele Menschen seien nach Mukatschewo geflohen. "Jeder bebaute Quadratmeter ist doppelt und dreifach belegt", erzählt Picard. Auch im Werk seien Geflüchtete untergebracht. "Sie wollen das Land nicht verlassen, damit sie schnell wieder nach Hause können, wenn der Krieg vorbei ist", erzählt Picard.

Lederwarenhersteller Georg Picard. (Foto: oh)

Picard hat seine Erfahrungen mit politischen Umbrüchen. Das Joint Venture in der Ukraine hat er 2011 gegründet, weil die Fabrik in Tunesien nach dem Arabischen Frühling nicht mehr zu halten gewesen sei. "Die Mentalität der Menschen hatte sich komplett gewandelt. Mitarbeiter blieben der Arbeit fern", erzählt Picard. Er legt Wert auf eine eigene Fertigung, um das Know-how zu bewahren. "Viele andere haben die eigene Fertigung aufgegeben, weil sie die Fabriken als Ballast empfinden, und arbeiten mit Lohnunternehmen zusammen. Das ist flexibler", sagt Picard.

Im Produktionsnetz von Dr. Bock, zu dem auch Rumänien, Bulgarien und Italien gehören, ist die Ukraine ein wichtiger Knoten. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen 1400 Mitarbeiter. Stoffe und die - wie es im Fachjargon heißt - Zutaten, zum Beispiel Knöpfe und Nähgarne, bekommen die Produktionsbetriebe in der Ukraine aus Rumänien oder direkt vom Auftraggeber. Hosen, die in der Ukraine hergestellt werden, tragen das Label "Made in Ukraine".

Joachim Beer ist Vorstandschef des Textilherstellers Dr. Bock Industries. Das Unternehmen näht für Marken wie Hugo Boss und Brax Leineweber Hosen in der Ukraine. (Foto: oh)

Eigene Betriebe hat Dr. Bock seit 2006 in der Ukraine, von Ende der Neunzigerjahre an habe er dort mit Lohnunternehmen zusammengearbeitet. "Und die Löhne waren deutlich niedriger", sagt Beer. Das sind sie immer noch. Der Mindestlohn liegt Beer zufolge bei 6500 Hrywnja, das sind umgerechnet knapp 200 Euro. "Die Ukraine ist nicht mehr das günstigste Land in Europa, aber immer noch eines der günstigen", sagt Beer. "Wir fahren jetzt auf Sicht. Wir können nur warten." Die Zeiträume für die Szenarien werden länger. "Erst dachten wir, wir machen eine Woche zu, dann zwei Wochen, jetzt wissen wir nicht, sind es vier oder acht Wochen oder noch länger." Und jetzt? "Wir wissen es nicht", so Beer.

Noch sei die Ware in der Ukraine, sowohl die fertigen Textilien als auch das Rohmaterial. "Wir denken und hoffen wie alle, vielleicht ist es doch bald vorbei." Doch immer öfter spielt Beer mit dem Gedanken, die Ware doch rauszuholen. Aber auch das ist schwierig. "Im Moment fährt kein Spediteur freiwillig die Ukraine an. Die Lkws, auch die ausländischer Firmen, können beschlagnahmt werden." Und wohin soll er mit der Ware? "Unsere eigenen Produktionskapazitäten sind momentan ausgebucht, weil viele Firmen die Produktion zurück aus Asien geholt haben. Es gibt kaum freie Kapazitäten in Europa." Gehört zu Beers Szenarien auch, dass die Produktion in der Ukraine dauerhaft stillgelegt werden könnte? "Daran möchten wir im Moment keinen Gedanken verschwenden."

Von den Sorgen der Textilarbeiterinnen werden die Verbraucher wohl wenig spüren

Dabei sah es gerade so aus, also ob das Unternehmen die Folgen der Pandemie hinter sich lassen könne. 2019 setzte die Gruppe 31 Millionen Euro um, 2021 waren es knapp 24 Millionen Euro. "Für dieses Jahr haben wir 28 Millionen Euro geplant", sagt Beer: "Das wird jetzt schwierig." Von den Sorgen der Arbeiter in den ukrainischen Textilfabriken werden die Verbraucher in Europa wohl wenig spüren. Es gebe immer noch ein Überangebot an Textilien. "Die Preiselastizität wie bei Benzin haben wir nicht", sagt Beer. "Der Wettbewerb ist intensiv. Und wir haben feste Liefervereinbarungen. Wir können unsere Preise nicht einfach grundlos anheben." Aber es gibt ja Gründe. Und in dieser Ausnahmesituation ließen die Kunden mit sich reden, sagt Beer - über Liefertermine und Preise.

Auch Unternehmer Picard denkt über Alternativen nach. Er könnte einen Teil der Produktion in das Gemeinschaftswerk in Bangladesch verlegen mit rund 900 Mitarbeitern. Oder versuchen, Produktionskapazitäten in Europa zu finden. "Aber die sind ziemlich ausgebucht, weil das Geschäft gerade wieder anzieht und in der Pandemie viele Fabriken aufgeben mussten, weil sie nicht ausgelastet waren", erzählt Picard am Telefon. Er hofft, dass es nicht so weit kommt und "der Krieg nicht nach Mukatschewo kommt".

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