TTIP:Es ist Zeit für einen Vertrag

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Der Widerstand gegen das Abkommen mit den USA ist nicht berechtigt: Die EU-Kommission hat ihren Kritikern Zugeständnisse gemacht.

Ein Kommentar von Alexander Hagelüken

Jede Idee hat ihre Zeit. Und die kann irgendwann auslaufen. Beim umstrittenen TTIP-Abkommen, so viel steht fest, wird es langsam ernst. In einem Jahr wählen die Vereinigten Staaten einen neuen Präsidenten. Misslingt es den USA und Europa bis dahin, sich grundsätzlich auf den geplanten Handelsvertrag zu verständigen, werden die Karten neu gemischt. Mit ihrem Nein zum Pazifikabkommen TPP, so wahlkampftaktisch es gemeint sein mag, demonstriert die Kandidatin Hillary Clinton die Ungewissheiten.

Eng wird es auch in Europa. Die Anti-TTIP-Demo in Berlin mit bis zu 250 000 Menschen war ein mächtiges Signal des Widerstands. Ja, es gibt eine bemerkenswerte Spaltung auf dem Kontinent: Engagiert protestiert wird nur in Deutschland und Österreich, während die meisten Bewohner der anderen Staaten sich von TTIP offenbar eher ökonomische Impulse erhoffen. Trotzdem ist die Gegnerschaft im größten EU-Staat für sich genommen schon ein Warnzeichen.

Handel
:Alle gegen TTIP

Der Protest gegen das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten eint Gegner mit ganz unterschiedlichen Motiven. In Berlin gingen am Samstag Tausende Menschen auf die Straße.

Von Hannah Beitzer

Am Ende müssten dem Abkommen nicht nur die Bundesregierung und wahrscheinlich der Bundestag zustimmen, sondern auch das Europaparlament. Und das hat bereits öfter als Seismograf für populären Protest funktioniert, etwa durch das Veto gegen das Urheber-Abkommen Acta. Wenn der EU überhaupt ein Deal mit den USA gelingt, muss sie auch die Kritiker überzeugen, weil ihr sonst die Ablehnung des Vertrags droht.

Die Brüsseler Kommission, die für Europa verhandelt, hat sich selbst in diese schwierige Lage gebracht. Sie ging bei TTIP vor, wie seit Langem bei Handelsgesprächen vorgegangen wird: Mit Fachchinesisch und Geheimniskrämerei. Mit dieser überkommenen Strategie bot sie den Kritikern Munition für ihren Protest.

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass bei den Gegnern Mythen und Panikmache blühen. Der Westen im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen schließen seit Jahrzehnten Handelsabkommen ab. Dabei trat nicht mal ein Bruchteil der dramatischen Nachteile auf, die jetzt bei TTIP an die Wand gemalt werden.

Es ist nun Zeit für eine nüchterne Bestandsaufnahme, sofern das bei diesem emotionalisierten Thema noch möglich ist. Die Kritiker haben, kein Zweifel, einiges erreicht. Was die EU den USA vorschlägt, ist häufig nachzulesen. Ohne den Protest wäre die EU wohl auch nicht so rasch bereit gewesen, die Praxis undurchsichtiger Schiedsgerichte über Bord zu werfen, mit der sich Konzerne missbräuchlich Schadensersatz erklagen könnten. Und nun betont die EU in einem weiteren Bereich ostentativ, was Kritikern wichtig ist: hohe Standards für Umwelt und Soziales.

Sicher, die Europäische Union beteuerte von Anfang an, dass sie ihr Schutzniveau gegenüber den Amerikanern verteidigen werde. Doch jetzt wird sie konkreter. In einem Kapitel über Nachhaltigkeit sollen Europa wie die USA das Recht erhalten, Umwelt und Soziales zu regeln, wie sie wollen. Die US-Regierung soll keine Standards abschwächen dürfen, um ihren Firmen einen Vorteil zu verschaffen. Und sie soll sich zum Streikrecht und anderem Arbeiterschutz bekennen, um den sie in internationalen Abkommen bisher einen weiten Bogen machte.

Es gibt in der Welt nicht zu viel Freihandel, sondern zu wenig

Das sind natürlich erst Vorschläge. Am Ende wird es darauf ankommen, ob Europa einen Großteil seiner Vorstellungen bei den Amerikanern durchsetzt. Wenn das gelingt, und auch nur dann, liegt ein Paket auf dem Tisch, dem Europas Politiker guten Gewissens zustimmen können. Dann bewahrt die EU ihr Gesellschaftsmodell - ohne auf die Vorteile eines Handelsvertrags zu verzichten.

Diesen Aspekt spielen die Kritiker gerne herunter: Wenn Europa und die USA ein weitreichendes Abkommen abschließen, werden sie davon wirtschaftlich enorm profitieren. So wie der freie Handel die Basis war für den Aufstieg des Westens von Agrargesellschaften, in denen viele wenig hatten, zum Wohlstand von heute. Es gibt in der Welt nicht zu viel Freihandel, sondern zu wenig: Das Siechtum des Doha-Abkommens der Welthandelsorganisation WTO bedeutet, dass große Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien weniger offen sind, als es auch für westliche Firmen gut wäre. TTIP ist ein großer Schritt zu mehr wirtschaftlicher Integration zumindest zwischen Europa und den USA - und damit ein Schritt in die richtige Richtung, wenn Europa dabei nicht seine Seele verkauft.

Solange die EU Standards bewahrt, die ihren Bürgern wichtig sind, ist gegen TTIP wenig zu sagen. Ja, Europa sollte sogar große Energie darauf verwenden, ein solches Abkommen abzuschließen. Der pauschale Widerstand ist bei manchem populär, aber er ist falsch.

© SZ vom 15.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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