Siemens Energy:Playlist für eine Gasturbine

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So lonely: Sting von "The Police'" bei einem Konzert im September 2007 in Hamburg. (Foto: Kay Nietfeld/picture-alliance/ dpa)

Nach Streit mit Gazprom bat Siemens Energy auf Twitter um Songs für die Anlage. Eigener Voschlag: "So lonely". Das fanden nicht alle lustig.

Von Thomas Fromm

Einsamkeit ist seit jeher ein fester Bestandteil der Musik, wenn auch eher in deren düsteren Ecken angesiedelt. Aber die Pop-Kultur ohne Einsamkeit, das wäre wie ein Song ohne die Liebe oder den Schmerz beim Verlassenwerden. Einsamkeit, das ist ein ewiger Topos, und natürlich haben auch Sting und seine frühere Band The Police diesen Gefühlszustand nicht neu erfunden - er war ja immer schon da. Aber ihre Teenagerhymne "So lonely", eine damals sehr zeitgenössische Mischung aus dynamischem Reggae und schnellem britischen Punk, passte Ende der 70er Jahre perfekt zum Seelenzustand junger Menschen. Freund oder Freundin weg, und jetzt: So einsam, seit mindestens tausend Jahren klopft keiner mehr an die Tür, und dann das ständige Herumsitzen und an diesem gebrochenen Herzen herumdoktern. Man ist mit allem fertig, aber weiß nicht wohin, und überhaupt: Willkommen zu dieser Ein-Mann-Show.

Selten stand eine Gasturbine so im Rampenlicht und war doch so einsam

Von den Gefühlen Heranwachsender zu einer Gasturbine, denn um die geht es nun. Sie steht seit Wochen allein ("So lonely") in einem Werk in Mülheim an der Ruhr herum, und natürlich hat sie auf den ersten Blick nicht viel mit diesem Police-Song aus dem Jahre 1978 zu tun. Aber auch hier geht es ein bisschen um das, was Sting schon vor über 40 Jahren sang: eine "One-man-show".

Eigentlich ist die Turbine ständig in Gesellschaft. Sie ist, wenn sie nicht gerade auf Weltreise geht, bei dem russischen Gazprom-Konzern im Einsatz und wurde schon vor Monaten vom Hersteller Siemens Energy zu Wartungsarbeiten nach Kanada gebracht. Business as usual war das damals, eine Routinesache. Diese Wartung hat die Turbine inzwischen längst hinter sich, seit Mitte Juli steht sie nun fertig und einsatzbereit im Ruhrgebiet - wie bestellt und nicht abgeholt. Seitdem Russland im Februar die Ukraine überfallen und Gazprom im Juni seine Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 heruntergefahren hat und dies mit der fehlenden Turbine begründete, seitdem ist dieses tonnenschwere Teil nun plötzlich zwischen die politischen Fronten geraten. Selten stand eine Gasturbine so sehr im Rampenlicht - und war doch so einsam.

Ein Sündenbock für Gas-Probleme

Vor zwei Wochen hatte sogar Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) der Mülheimer Turbine einen Besuch abgestattet und erklärt, sie sei jederzeit einsetzbar und könne zurück nach Russland geliefert werden - wenn die Russen sie nur mal zurückordern würden. Moskau schiebe die Turbine nur vor, um seine Gaslieferungen nach Deutschland zu drosseln. Die Gasturbine ist also nicht nur einsam - sie ist auch eine Art Sündenbock.

Am Mittwoch nun hatte Siemens Energy einen Tweet veröffentlicht. "Unsere berühmte Turbine ist noch nicht da, wo sie sein sollte", tweeten die Social-Media-Leute dort. Und weiter: "Lasst uns dem armen Ding einen Gefallen tun und eine Spotify-Playlist erstellen." Der Konzern selbst empfahl als ersten Eintrag, klar: "So Lonely". Im Laufe weniger Stunden wurde die Liste immer länger, es gibt ja auch genug Material. Elton John ("I'm still standing"), Depeche Mode ("Enjoy the silence"), die Beatles ("Back in the USSR") und natürlich das großartige "Road to nowhere" von den Talking Heads. Auch Gazprom war kreativ und schlug den Judas Priest-Song "Breaking the Law" vor.

Ironie im Krieg - darf man das?

In München hatten sie die Reaktionen unterschätzt, denn es gab da draußen nicht nur die, die fleißig mit an der Spotify-Liste arbeiteten. Es hagelte auch Kritik und Proteste. Da gab es die Kritiker, die den Tweet angesichts von Krieg und Energiekrise "geschmacklos", "taktlos" und "übers Ziel geschossen" fanden. Soweit, so normal. Es gab, berichten Insider, aber auch die persönlichen Beleidigungen, die typischen Troll-Aktionen, die man nicht braucht.

Am Freitag Nachmittag dann waren der Tweet und die Playlist wieder verschwunden. "Wir haben unseren Tweet über die Turbine gelöscht, der eine kontroverse Diskussion ausgelöst hat", schrieb das Unternehmen nun. Man habe "verstanden, dass Tonalität und Thema des Tweets als unangemessen angesehen wurden". Dies sie nie Absicht gewesen, man entschuldige sich dafür.

Am Montag danach also: Tweet weg, The Police weg, Talking Heads weg. Und Gasturbine immer noch da. Vielleicht klopft ja doch noch jemand an die Tür.

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