Die professionellen Lebensläufe von Pierre Régibeau und Fiona Scott Morton unterscheiden sich nicht fundamental. Beide sind Volkswirte, beide haben an renommierten amerikanischen Universitäten studiert und geforscht - Berkeley, MIT, Stanford, Yale. Beide sind anerkannte Experten für Industriepolitik, Kartellrecht und Handel. Beide haben, wie das üblich ist, ihre Expertise zu Geld gemacht und Großkonzerne bei Wettbewerbsverfahren beraten. So hat Régibeau an Fällen gearbeitet, die Microsoft betrafen, Fiona Scott Morton hat Amazon und Apple geholfen.
Einen wichtigen Unterschied gibt es allerdings - den Pass. Régibeau ist Belgier, Fiona Scott Morton ist Amerikanerin. Und deswegen bekommt sie nun den Job nicht, den er derzeit noch innehat: Chefökonom der "DG Competition", der äußerst mächtigen Wettbewerbsbehörde der EU-Kommission, die über Firmenzusammenschlüsse und allerlei andere geschäftsrelevante Dinge in Europa entscheidet. Scott Morton erklärte am Mittwoch in einem Brief an Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, die sie einstellen wollte, dass sie auf das ihr zugedachte Amt verzichte. Das sei, so schrieb Scott Morton, angesichts "der Kontroverse", die ihre Berufung ausgelöst habe, wohl die beste Lösung.
Nun ist "Kontroverse" ein niedliches Wort für das, was passiert ist. "Aufschrei" träfe es besser oder "Revolte". Eine Amerikanerin auf einem der wichtigsten wirtschaftspolitischen Posten der EU? Noch dazu eine, die für amerikanische Big-Tech-Kraken gearbeitet hat, bei deren Regulierung sie künftig in ihrem neuen Amt mitzureden hätte? Mon Dieu, schallte es aus Paris. Der französische Präsident Emmanuel Macron stellte sich an die Spitze des Widerstands. Das Europaparlament schrieb einen empörten Brief an die EU-Kommission. Nur die deutschen Grünen unterzeichneten nicht, weil ihnen die Reduzierung einer Bewerberin auf den Pass seltsam vorkam. Doch selbst einige Kommissarinnen und Kommissare appellierten schriftlich an ihre Präsidentin Ursula von der Leyen, die Personalie rückgängig zu machen.
Interessant sind die Interpretationen, warum diese Personalie so umstritten war
Bevor der Streit weiter eskalieren konnte, zog Scott Morton die Notbremse. Die Stimmung war ohnehin vergiftet, an eine erfolgreiche Arbeit war nicht mehr zu denken. Und warum sollte eine erfolgreiche Akademikerin, die als Beraterin bestimmt nicht schlecht hinzuverdient, sich diesem archaischen innereuropäischen Gezänk zwischen Regierungen und Institutionen aussetzen?
Interessant sind freilich die Interpretationen, warum die Personalie so umstritten war. Dass die Besetzung eines hochrangigen EU-Postens mit einer Nicht-EU-Staatsbürgerin ungewöhnlich und politisch heikel ist, muss Vestager klar gewesen sein. Einige Beobachter werfen der Dänin deswegen Schlamperei vor. Sie hätte sich im Vorfeld enger mit Paris abstimmen müssen, heißt es.
Andere Leute sehen Scott Morton dagegen eher als kollaterales Opfer von Macrons Drängen auf "strategische Autonomie" der EU - sprich: auf mehr Unabhängigkeit von Amerika. Strategische Autonomie beinhalte auch "Autonomie des Denkens", sagte der französische Präsident am Dienstag. Dazu ist eine Yale-Professorin, die zugleich amerikanische Staatsbürgerin ist, seiner Ansicht nach offenbar nicht in der Lage. Er sei "skeptisch", was die Berufung angehe, und es sei "extrem beunruhigend", dass Vestager keine europäischen Kandidaten mit ähnlicher Qualifikation habe finden können, so Macron.
Eine dritte Interpretation schließlich sieht als wahres Ziel der Aufregung die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ihr sehr enges Verhältnis zur amerikanischen Regierung und zu Präsident Joe Biden ist einigen EU-Ländern ein Dorn im Auge, vor allem denen, die sich in der europäischen Politik gegenüber China mehr Abstand zu Washington wünschen. Einer Amerikanerin einen Posten in Brüssel zu verwehren, wäre nach dieser Deutung ein Schuss vor den Bug von der Leyens.