Wenn man Theo Waigel fragt, ob denn die Einführung des Euro der Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands gewesen sei, holt er Luft und antwortet mit nicht gespieltem Zorn: "So ein Quatsch!" Die Historiker und Journalisten sollten lieber ihn fragen, ehe sie so etwas schrieben, sagt er. "Ich bin nämlich dabei gewesen." Natürlich hat der ehemalige Bundesfinanzminister, einer der Väter des Euro, recht: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist kein Kind der Jahre 1989 und 1990, sie stand, seit der luxemburgische Pierre Werner 1970 zum ersten Mal einen entsprechenden Plan vorlegte. Richtig ist aber auch, dass der Verzicht auf die D-Mark diesseits und jenseits der Grenzen als Beleg dafür gewertet wurde, dass die Deutschen ein europäisches Deutschland wollen - und kein deutsches Europa .
Umso bitterer, dass sich diese Wahrnehmung im Zuge der Griechenland-Krise radikal geändert hat. Plötzlich steht Deutschland da als das Land, das sich Europa unterwerfen möchte. Das "System Schäuble" gilt als Ausdruck deutscher Diktatur, der "hässliche Deutsche" ist zurück. Höchste Zeit innezuhalten. Was hat es mit dem "System Schäuble" auf sich?
Es gibt gute Gründe für das "System Schäuble"
Viele Kritiker, darunter namhafte Ökonomen, werfen Deutschland seinen Ordnungsfimmel vor. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble pochten auf Verträge und Regeln, ohne Rücksicht auf Verluste. Das Problem ist: Eine Währungsunion ohne feste Regeln kann nicht funktionieren, die Notenbank muss glaubwürdig sein. Nur unter der Voraussetzung kann sie den Geldwert stabil halten.
Ja, es waren die Deutschen, die besonders auf die Stabilität der Währung drangen, der Vertrag von Maastricht ("Das Grundgesetz der Währungsunion", sagt Theo Waigel) trägt eine deutsche Handschrift. Das hat Wurzeln in der Geschichte.
Schon im Heiligen Römischen Reich war Deutschland, anders als Frankreich oder England, meist föderal verfasst, Föderalismus aber funktioniert nur mit festen Regeln. So mag sich teilweise die Liebe der Deutschen zu gesetzten Ordnungen erklären. Man sollte aber auch nicht übertreiben: Die Unabhängigkeit der Notenbank, eines der Grundelemente deutscher Ordnungspolitik, wurde den Deutschen zweimal, 1924 und 1948, von ehemaligen Kriegsgegnern oktroyiert, beim zweiten Mal entdeckten sie dann, dass das Oktroi in Wirklichkeit ein wunderbares Geschenk war.
Der Goldstandard zeigt die Risiken einer gemeinsamen Währung
Am besten lassen sich die Chancen und Risiken einer Währung, die souveräne Nationen zusammenbindet, an einem historischen Beispiel zeigen: dem Goldstandard. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts banden fast alle Industriestaaten (Deutschland 1871) ihre Währungen zu einem festen Kurs an Gold. Das System hatte, im Gegensatz zur Europäischen Währungsunion, keine gemeinsame Notenbank. Jedes Land entschied souverän über seine Geldpolitik. Aber diese Souveränität war trotzdem relativ. Gold sorgte indirekt für eiserne Disziplin. Sobald ein Land größere Defizite im Außenhandel einfuhr oder das Vertrauen der Finanzmärkte verlor, musste es mit dem Abfluss von Gold rechnen. Dem konnte das Land nur durch höhere Zinsen und/oder Sparmaßnahmen entgegentreten, durch Austerität eben, mit hohen Opfern, die besonders die Arbeiter und ihre Familien bringen mussten.
Die Zeit des Goldes war begleitet von häufigen und schweren Finanzkrisen - das allein schon ist eine ernste Warnung für die Euro-Zone. Bestes Beispiel ist der "Gründerkrach" von 1873, ein Börsencrash, der eine lang anhaltende Rezession mit Massenarbeitslosigkeit folgte. Ursache des Krachs war - ähnlich wie in Griechenland vor 2008 - ein ungebremster Kapitalzufluss. Im Falle Deutschlands waren es die Reparationen in Höhe von fünf Milliarden Goldmark, die Frankreich nach dem preußisch-französischen Krieg von 1870/71 an das neu gegründete Deutsche Reich zahlen musste. Die Reparationen blähten die Geldmenge auf und erzeugten eine Illusion von Wohlstand. Am Ende stand der Kollaps.
Die Währungsunion hat kein Sicherheitsventil
Die Wirtschaftshistoriker Harold James (Princeton) und Michael Bordo (Rutgers) untersuchten in einem gemeinsamen Papier Schlussfolgerungen aus dem Goldstandard für den Euro. Sie sehen nicht sehr gut aus: Bei festen Wechselkursen und freiem Kapitalverkehr, wie vor 1914 üblich, ist es schwer, Bankenkrisen abzuwenden. Und die harte Disziplin, die das System verlangt, ist mit der Demokratie nur schwer zu vereinbaren. Die Wiedereinführung des Goldstandards nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte letztlich, weil die Regierung in London die notwendigen Opfer ihrem Volk nicht zumuten wollte. Sie folgte damit dem dringenden Rat des Ökonomen John Maynard Keynes. Die Weimarer Republik musste auf Druck der Alliierten bis zum bitteren Ende am Goldstandard festhalten. Das bittere Ende hieß dann Adolf Hitler.
Nun hat die Währungsunion gegenüber dem Goldstandard einen großen Vorteil: Sie besitzt in der Europäischen Zentralbank (EZB) eine zentrale Institution, die die Geldpolitik steuern kann. EZB-Präsident Mario Draghi tut dies, mit bemerkenswertem Erfolg. Bis jetzt ist aus der Griechenland-Krise keine Euro-Krise geworden. Die Währungsunion hat aber auch einen Nachteil: Sie hat kein Sicherheitsventil. Den Goldstandard konnte ein Land, das die nötige Disziplin nicht aufbringen konnte oder wollte, relativ einfach verlassen, auch auf Zeit. Argentinien tat dies 1890 nach einer schweren Finanzkrise. Die Goldbindung der anderen Länder hat dies nicht betroffen. Bei der Währungsunion ist das anders. Der Austritt eines Mitglieds wäre für den Rest der Union ein hochriskanter Akt. Deshalb sind Rettungspakete für Griechenland nötig, deshalb hat Schäubles Vorschlag eines Grexit auf Zeit so viel Aufruhr erzeugt. Nicht mehr anonyme Marktkräfte sorgen für Disziplin, es ist der Finanzminister des wirtschaftlich stärksten Landes.
Die Griechenland-Krise hat gezeigt, dass dieses Muster eine Katastrophe für Europa ist, ganz unabhängig davon, wie klug die Hilfsprogramme für Athen nun aufgesetzt sind. Es ist genau das eingetreten, was der Ökonom und Euro-Gegner Milton Friedman 1997 vorausgesagt hat: "Schocks, die durch eine Abwertung relativ leicht hätten gemildert werden können, werden zu umstrittenen politischen Themen gemacht." Das bringe die Europäer nicht zusammen, sondern treibe sie auseinander.
Das Problem geht aber noch viel tiefer. Nach jetzigem Stand - und es ist nicht absehbar, wie das geändert werden könnte - hat die Euro-Zone eine gemeinsame Geld-, aber keine gemeinsame Finanzpolitik. Der Mangel soll lediglich dadurch ausgeglichen werden, dass die EU-Kommission die nationalen Haushalte kontrolliert und gegebenenfalls Änderungen verlangt. Dies wird aber tendenziell die Unterschiede in der Gemeinschaft eher verschärfen.Darauf hat der britische Ökonom Nicholas Kaldor bereits 1971 hingewiesen.
In der Debatte um einen möglichen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), wie die EU damals hieß, setzte sich der Keynesianer kritisch mit dem Werner-Plan für eine Wirtschafts- und Währungsunion auseinander. Sein Argument: Wenn man die Politik in Europa harmonisiert, dann sind die Anpassungsleistungen bei den schwächsten Ländern am größten, sie laufen Gefahr zurückzubleiben. Kaldor schrieb wörtlich: "Wenn die Schaffung einer Währungsunion in Kombination mit der gemeinschaftlichen Kontrolle der nationalen Budgets einen Druck ausübt, der das ganze System zum Zusammenbruch bringt, dann wird es die Bildung einer politische Union verhindern und nicht fördern."
Die USA können als Beispiel dienen
Es ist nach den Erfahrungen der letzten Monate schwer vorstellbar, wie die Währungsunion dauerhaft ohne eine europäische Finanzpolitik überleben kann. Nicht nur ein EU-Finanzminister ist nötig, der dem EU-Parlament Rechenschaft ablegen muss, er braucht auch ein Budget, das ein erhebliches Maß an innereuropäischer Solidarität ausdrückt.
Warum, zeigt ein Blick in die USA. Auch Amerika kann man als eine Währungsunion auffassen. Die einzelnen Bundesstaaten sind extrem unterschiedlich. Zwischen Texas und New York liegen Welten, was Demografie, politische Kultur, Umgang mit Waffen und Sozialgesetzen betrifft. Der Bundesstaat Kalifornien stand während der Finanzkrise am Rande der Pleite und musste seine Rechnungen mit Schuldscheinen bezahlen. Ursache der Fast-Pleite war ein dysfunktionales System, das es fast unmöglich macht, die Steuern zu erhöhen, aber dem Staat viele Anreize setzt, um Geld auszugeben - ganz ähnlich wie in Griechenland. Trotzdem kam nie jemand auf die Idee, Kalifornien müsse aus dem Dollar ausscheiden, denn der Staat blieb innerhalb der gesamtamerikanischen Solidarität, der Bund zahlte Renten und Gehälter für Bundesangestellte und Soldaten.
Eine gesamteuropäische Meinungsbildung lässt sich nicht verordnen
Jürgen Habermas bemängelte in einem großen Essay in der Süddeutschen Zeitung, es fehle der "Fokus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa". Das stimmt, aber dieser Fokus lässt sich nicht einfach durch einen Willensakt in Berlin herstellen. Die Bereitschaft, nationale Souveränität, und damit Zugriff auf das Geld der Steuerzahler, aufzugeben, muss bei allen EU-Staaten wachsen. Die demokratische Kontrolle muss auf europäischer Ebene stattfinden. Über die Schwierigkeit dieses Prozesses darf man sich keine Illusionen machen.
Exklusiv Europa:Habermas: Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist
Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden, das fordert der berühmte Philosoph Jürgen Habermas. Angela Merkel habe die Krise mitverursacht. Der Kanzlerin seien die Anlegerinteressen wichtiger als die Sanierung der griechischen Wirtschaft.
Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der USA, schrieb einmal: "Es gibt vermutlich nichts, was die Ruhe der Nationen mehr zu stören vermag, als wenn sie gezwungen werden, gemeinsam für etwas zu zahlen, von dem sie nicht einen gleichen und übereinstimmenden Vorteil haben." Hamilton muss es wissen, er hatte nach der Unabhängigkeit der USA die divergierenden 13 Siedlerrepubliken mit Hilfe von Geld und Schulden vereint.
Noch ist Europa nicht vorbereitet auf eine weitere Stufe der Integration. Der Erfolg europafeindlicher Parteien, zuletzt in Polen, zeigt das. Aber vielleicht hilft das Bewusstsein, dass es keine realistische Alternative gibt, wenn man denn am europäischen Traum festhalten möchte.