Russland:Luftfahrtversicherungen stehen vor bislang schlimmstem Schadensfall

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Flugzeuge, die russische Airlines nicht zurückgegeben haben, können für Leasinggesellschaften teuer werden. (Foto: FABRICE COFFRINI/AFP)

Trotz Sanktionen und Kündigungen fliegen russische Fluggesellschaften viele geleaste Maschinen illegal weiter. Die Eigentümer könnten dafür bis zu 13 Milliarden US-Dollar fordern.

Von Jens Flottau und Herbert Fromme, Frankfurt/Düsseldorf

Die globale Versicherungswirtschaft muss mit Milliardenforderungen von Flugzeug-Leasinggesellschaften fertigwerden, deren Flugzeuge in Russland gestrandet sind. Im schlimmsten Fall könnte es zu den höchsten Schadenforderungen in der Geschichte der Luftfahrtversicherung kommen. Das dürfte auch große deutsche Anbieter wie Allianz, Munich Re und Hannover Rück treffen.

In welchen Dimensionen sich die Ansprüche bewegen, zeigte sich am Mittwoch in Dublin: Da gab das weltweit größte Flugzeug-Leasingunternehmen Aercap bekannt, dass seine Schäden aus Flugzeugen, die russische Airlines nicht zurückgeliefert haben, knapp 2,5 Milliarden Dollar ausmachen. In einer Telefonkonferenz teilte Aercap-Finanzchef Peter Juhas auch mit, dass die Firma in der vergangenen Woche Versicherungsansprüche von insgesamt 3,5 Milliarden Dollar angemeldet hat. Dass Unternehmen Forderungen anmelden, die über dem aktuellen Schaden liegen, ist nicht ungewöhnlich. Schließlich steht noch nicht fest, wer von den Versicherern in welcher Höhe zahlt.

Die Summe könnte Aercap von Versicherungsgesellschaften verlangen, bei denen die Firma sogenannte All-Risk-Policen gegen alle Risiken abgeschlossen hatte. "Wir glauben, dass die volle Summe von 3,5 Milliarden berechtigt ist", sagte Aercap-Chef Aengus Kelly.

Aercap hatte als Leasinggeber russischen Fluggesellschaften insgesamt 135 Flugzeuge und 14 Motoren mit einem Gesamtwert von 3,1 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Bislang konnte die Firma 22 Flugzeuge und drei Motoren wieder unter ihre Kontrolle bringen, teilte sie mit. Sie haben einen Wert von 400 Millionen Dollar. Außerdem gibt es Zahlungsabsicherungen über Akkreditive im Wert von 260 Millionen Dollar, dann bleiben die knapp 2,5 Milliarden Dollar. Aercap gehen zudem monatlich 33 Millionen Dollar an Leasingeinnahmen aus Russland verloren.

Im komplexen Netz von Sanktionen verfangen

Die russische Luftfahrt und die Leasinggesellschaften haben sich im komplexen Netz von Sanktionen und gesetzlichen Gegenmaßnahmen Russlands verfangen. Die in westlichen Ländern beheimateten Leasinggesellschaften haben wegen der Sanktionen alle Leasingverträge mit russischen Airlines zum 28. März 2022 gekündigt und die Rücklieferung der Flugzeuge verlangt.

Russland hat als Reaktion seine Gesetze geändert und russischen Fluggesellschaften gestattet, im Westen geleaste Flugzeuge in Russland als ihr Eigentum zu registrieren. Unter internationalen Abkommen ist das zwar nicht möglich, doch das schert Moskau nicht. "Viele unserer Flugzeuge werden nun illegal von unseren ehemaligen Kunden weitergeflogen", beklagt Kelly.

Ratingagenturen beurteilen die Zahlungsfähigkeit von Versicherern und haben einen guten Einblick in die wirtschaftliche Lage der Branche. Da lässt es aufhorchen, dass die Ratingagentur Fitch Milliardenschäden für die Versicherer aus den Leasingverträgen erwartet.

Besonders betroffen ist der Londoner Versicherungsmarkt Lloyd's, der als Zentrum der globalen Luftfahrtversicherung gilt. Allerdings ist Lloyd's nicht allein, auch andere Gesellschaften haben die Risiken übernommen. Außerdem dürften mindestens 30 Prozent der Schäden bei internationalen Rückversicherern wie Munich Re, Swiss Re und Hannover Rück ankommen.

Die Höhe der Ansprüche ist schwer zu beziffern, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit vor Gericht landen werden, glaubt Fitch. Auch Aercap rechnet damit, dass die Versicherungen ihre Forderungen anfechten werden. Es dürfte vor allem darüber Streit geben, ob Teile des Versicherungsschutzes mit der Verhängung der Sanktionen erloschen sind und ob die Kündigungen der Versicherer für ihr Policen rechtzeitig und rechtmäßig waren.

Es geht um beträchtliche Summen. Die Ratingagentur schätzt den versicherten Restwert der mehr als 500 betroffenen Flugzeuge auf 13 Milliarden Dollar. Weil es Obergrenzen für die Gesamtzahlungen aus einzelnen Policen gibt, kommt Fitch auf eine "realistische Schadensumme" von fünf bis sechs Milliarden Dollar. "Wir gehen aber davon aus, dass sich die gesamten Versicherungsansprüche im schlimmsten Fall auf bis zu zehn Milliarden Dollar belaufen könnten." Das wäre die höchste Schadenforderung, die es in der Geschichte der Luftfahrtversicherung jemals gegeben hat. Die Ratingagentur Moody's geht von ähnlichen Größenordnungen aus, sie spricht von neun bis elf Milliarden Dollar.

Jefferies schätzt den Gesamtschaden auf 1,5 Milliarden Dollar

In der Spezialsparte Luftfahrt-Kriegsversicherung, die gegen besonders hohe Prämien auch Risiken aus militärischen Konflikten abdeckt, schätzt die US-Investmentbank Jefferies den Gesamtschaden auf 1,5 Milliarden Dollar. Die größte Summe davon dürfte an Aercap in Irland gehen: Denn das Unternehmen hatte eine Spezialpolice für genau solche Kriegsrisiken.

Die russischen Fluggesellschaften leasen den weit überwiegenden Teil ihrer Maschinen und hatten bis zuletzt praktisch alle auch außerhalb des Landes registriert. Rund 600 Maschinen waren von den Sanktionen betroffen. Von diesen konnten die Leasinggeber nur 78 tatsächlich konfiszieren, weil diese gerade im Ausland waren, etwa bei langwierigen Wartungsarbeiten, die die Airlines international oft an Spezialfirmen vergeben.

Wegen des Risikos, dass Maschinen beschlagnahmt werden, vermeiden die russischen Airlines Flüge ins Ausland mit geleasten Jets, auch dort, wo sie noch hinfliegen dürften, wie etwa in die Türkei. Besonders kreativ ist mittlerweile die staatliche Aeroflot. Sie baut im südrussischen Sotschi ein Drehkreuz für Flüge in den Nahen Osten auf. Der Grund: Die eingesetzten Suchoi Superjet 100 gehören ihr selbst oder russischen Leasingunternehmen, haben aber nicht genügend Reichweite, um von Moskau direkt zu fliegen. Sie können aber immerhin nicht beschlagnahmt werden.

Die Sanktionen, die auch Ersatzteile und Dienstleistungen betreffen, stellen die Fluglinien vor große Probleme. Die Billigfluglinie Pobeda, eine Tochter der staatlichen Aeroflot, hat zuletzt angekündigt, 16 ihrer 42 Boeing 737 aus dem Verkehr zu ziehen, weil sie nicht mehr genügend Ersatzteile hat. Generell wird damit gerechnet, dass die russischen Airlines einen Teil der Flotte ausmustern und als Ersatzteillager benutzen, um wenigstens einen Teil der Inlandsstrecken aufrechterhalten zu können.

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