Weltall:Was die Raumfahrt nebenher den Erdlingen bringt

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Neun Beispiele dafür, wie die extremen Anforderungen im All das Leben hier unten verbessert haben.

Von Hans von der Hagen und Dieter Sürig

Alle Illustrationen: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Die extremen Bedingungen im All sind für Wissenschaftler und Unternehmen äußerst interessant: Sie ermöglichen Versuche, die auf der Erde undenkbar sind - zum Beispiel, weil sich Stoffe in der Schwerelosigkeit oft ungewohnt verhalten. Etwa 2000 Experimente wurden etwa auf der Internationalen Raumstation ISS in den Bereichen Biotechnologie, Physik und Medizin umgesetzt. Die ISS eignet sich dafür besonders gut, weil sie seit fast 20 Jahren ständig mit Astronauten besetzt ist. Unter der Ägide des US-staatlichen National Lab können dort auch Privatunternehmen forschen lassen. Noch besser wird das funktionieren, wenn im März mit dem Airbus-Modul Bartolomeo eine private Forschungsplattform zur ISS geschickt wird. Doch entsteht aus der Arbeit im All oder zumindest im Zusammenspiel mit der Raumfahrtindustrie auch etwas, das für jeden hilfreich sein kann? Genannt werden Akkuschrauber, Handykamera oder Rettungsdecken. Und natürlich die GPS- und Galileo-Signale fürs Navi, Wetterkarten oder weltweite Liveübertragungen im Fernsehen. Aber da ist noch mehr - einige Beispiele.

Wasserflasche mit Filter

(Foto: N/A)

Zum Alltag der Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS gehört auch die Gewissheit, regelmäßig das Urin der anderen trinken zu müssen. Dies freilich in wiederaufbereiteter Form: Seit 2009 gibt es an Bord der Raumstation eine Recyclinganlage, die aus Abwasser, Kondenswasser, Schweiß - und Urin - Trinkwasser produziert. Jahr für Jahr etwa 6000 Tonnen, die nicht von der Erde zur ISS befördert werden müssen. Diese Technik hat Mohssen Ghiassi aufgegriffen, der ein mobiles Filtersystem entwickeln wollte, das am besten gleich in eine Trinkflasche integriert werden kann. Er gründete in Kalifornien das Unternehmen Öko und verkauft nun: Wasserflaschen mit integriertem Filter für Outdoor-Aktivitäten und Reisen. Nach eigenen Angaben ist das spezielle zweistufige Filterverfahren dazu geeignet, das eingefüllte Wasser sogar von krankheitserregenden Mikroben zu reinigen. Die Flasche werde in mehr als 120 Ländern als wirksam eingestuft, die Firma informiert ihre Kunden zudem über die Wasserqualität in bestimmten Regionen und mögliche Zusatzmaßnahmen bei der Filterung. Und ein kleiner Tipp für diejenigen, die einmal selbst auf die ISS kommen sollten: Die Russen haben ihr eigenes Wasseraufbereitungssystem - ohne Urin.

Extrem-Chirurg

(Foto: N/A)

Auf der Internationalen Raumstation ISS gibt es ein wunderliches Wesen. Es trägt den Spitzname Dextre - in Anlehnung an das englische Wort "dexterous" für "geschickt". Dextre ist für die ISS ungefähr so wichtig wie im legendären Tarantino-Film "Pulp Fiction" Mr. Wolf - in heiklen Situationen löst er die Probleme. Dafür hat Dextre zwei besonders gewandte Roboterarme, die ferngesteuert außerhalb der Raumstation Experimente ausführen oder Reparaturaufgaben übernehmen. Die kanadische Firma MDA, die für das Spaceshuttle bereits den mächtigen Greifer Canadarm mitentwickelt hatte, brachte die Technologie im Rahmen einer Kooperation mit der Universität Calgary unter dem Namen Neuroarm in den Operationssaal. Roboterchirurgen gab es zwar schon vorher, doch Neuroarm wurde entwickelt, um mikrochirurgische Eingriffe am Kopf innerhalb eines Kernspintomografen möglich zu machen. Das bedeutet: Der Roboterchirurg muss in einem extremen Umfeld zurechtkommen, weil die Kernspintomografen ein extremes Magnetfeld erzeugen und der zur Verfügung stehende Platz in der Röhre, in der auch der Patient liegt, beschränkt ist. Die Erfahrungen aus dem All halfen, Neuroarm besonders beweglich zu gestalten und geeignete Materialien für das Gerät zu finden, denen die Kraft der Magnete nichts anhaben konnte. Um dem Arzt die Fernsteuerung zu erleichtern, kann er selbst nachempfinden, was der Roboter fühlt: Er erhält eine haptische Rückmeldung. Zudem gibt es Sicherheitsmechanismen, um unbeabsichtigte Bewegungen nicht auf den Roboter zu übertragen. Beides ist im All genauso wichtig.

Vogelperspektive

Wer Sportbrillen mit rosa- oder orangefarbenen Gläsern kauft, bekommt im Geschäft oft zu hören, dass Filter dieser Art bei schlechten Lichtverhältnissen die Sicht verbessern würde. Kann das sein? In den Achtzigerjahren sollten die Wissenschaftler James Stephens und Charles Miller vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) für einen Hersteller von Schweißschutzgeräten herausfinden, wie neben der ultravioletten Strahlung auch das Blaulicht herausgefiltert werden könnte, dessen netzhautschädigende Wirkung erst später entdeckt wurde. Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich sein, dass sich ein Unternehmen ausgerechnet an das JPL wendet, das normalerweise Raumfahrtmissionen betreut, Satelliten, Sonden und Weltraumroboter entwickelt. Doch mit seiner Erfahrung aus dem All war das JPL eine gute Anlaufstelle: Raumfahrtunternehmen müssen Wege finden, Astronauten und Ausrüstung sowohl gegen die kosmische Strahlung als auch das ungefilterte Sonnenlicht zu schützen. Als Stephens und Miller eine Lösung suchten, stießen sie der Nasa zufolge auf Forschungsarbeiten, die zeigten, wie Greifvögel das Strahlungsproblem gelöst hatten: In den Augen der Vögel wird mithilfe winziger Öltröpfchen Licht mit gefährlich kurzen Wellenlängen herausgefiltert. Andere Farben hingegen können den Ölfilm problemlos passieren. Die Augen von Greifvögeln und auch anderen Vogelarten werden so gegen schädliche Strahlung geschützt. Zusätzlich erhöht sich durch verbesserte Farbkontraste auch das Sehvermögen. Ähnliche Qualitäten hatte dann die von den Forschern entwickelte Schweißschutzbrille. Später lizenzierte ein Hersteller von Sonnenbrillen die Technologie.

Umgekehrter Hitzeschild

(Foto: N/A)

Als die Nasa in den Neunzigerjahren ein neues wiederverwendbares Shuttle entwickelte, sollte dies einen flexibleren und leichteren Wärmeschutz haben als das Space Shuttle , das bereits 1981 flog. Ingenieure des Nasa Ames Research Center entwickelten aus einer Siliziummischung eine Schutzbeschichtung für keramische Materialien (PCCM), die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre Temperaturen von bis zu 3000 Grad Fahrenheit (1650 Grad Celsius) überstehen kann. Die Schicht war nach Nasa-Angaben papierdünn, wog wenig und gab die Wärme der erhitzten Keramikfliesen so ab, dass das Wärmeschutzsystem bei extremen Temperaturen nicht verbrennen konnte. Und: PCCM ist widerstandsfähig gegen mechanische Beschädigungen. Die Nasa hat für das Patent diverse Lizenzen an Industrieunternehmen vergeben. PCCM kann überall dort genutzt werden, wo Hitze im Spiel ist, beispielsweise in Öfen, mit denen Glasflaschen hergestellt werden, aber auch in Backöfen und Müllverbrennungsanlagen. Die Schicht kann jedoch nicht nur Hitze abwehren, sondern auch vor rascher Abkühlung schützen. Dies macht sich der amerikanische Textilzulieferer Trizar zunutze: Die Wärme abstrahlende Schicht soll beispielsweise bei Outdoor-Kleidung zu einer besseren Wärmeregulierung führen.

Raketentechnik für Feuerwehr

(Foto: N/A)

Selbst die Feuerwehr profitiert von der Raumfahrt: Als die frühere Firma Orbital Technologies Corporation aus dem US-Bundesstaat Wisconsin für die Nasa ein neuartiges Raketentriebwerk entwickelt hatte, bei dem auch Hochdruckdüsen eine Rolle spielten, griffen Ingenieure des Unternehmenszweigs HMA Fire diese Technologie auf. Ihre Idee: Sie wollten ihre Hochdruckfeuerlöscher verbessern. Schließlich ging es bei der Entwicklung für Raketentriebwerke um Hochdruckfluidströme durch Düsen, die extrem hohen Temperaturen und einer schnellen Abkühlung ausgesetzt sind. "Als wir diese Technologie für die Raumfahrt weiterentwickelten, wurde deutlich, dass sie eine bodenständigere, aber nicht weniger beeindruckende Anwendung für die Feuerwehr hatte", so HMA Fire, das mittlerweile zum eigenständigen Unternehmen geworden ist. Nach jahrelanger Forschung mit Air-Force-Wissenschaftlern konnte HMA ein Ultrahochdrucksystem für die Brandbekämpfung entwickeln. Das Ergebnis: Nach HMA-Angaben können Brände auf diese Weise schneller und mit weniger Wassereinsatz gelöscht werden.

Erdbebenschutz

Welche Verbindung es zwischen einem Space Shuttle und einem Erdbeben gibt? Zunächst könnte das Dröhnen beim Start einer Rakete, das im Umkreis von einigen Kilometern zu Erschütterungen führen kann, an ein kleines Erdbeben erinnern. Dies ist aber in diesem Zusammenhang nicht gemeint, sondern vielmehr ein spezieller Stoßdämpfer, der sowohl bei einem Raketenstart als auch bei einem Erdbeben zum Einsatz kommt. Die Firma Taylor Devices im US-Bundesstaat New York hat schon die Startrampen der Saturn-V-Raketen der Nasa mit Stoßdämpfern ausgestattet. Sie gehören zu einem speziellen System, das garantieren soll, dass der Schwenkarm mit den Versorgungsleitungen kurz vor dem Start möglichst sanft vom oberen Bereich der Rakete abgetrennt und zurückgeschwenkt wird. Würde dies ruckartig passieren, könnte der Schwenkarm, der Strom und Brennstoff zur Rakete führt, auseinanderbrechen oder mit dem Raumschiff kollidieren. Das Unternehmen entwickelte für die Nasa öl- und gasbasierte Stoßdämpfer und stattete auch die Startrampe für das Space Shuttle mit Flüssigstoßdämpfern aus, um die Versorgungskabel sicher zu entfernen. Ähnliche Stoßdämpfer, die mit einer komprimierbaren Flüssigkeit gefüllt sind, entwickelte das Unternehmen dann für Gebäude. Solche seismischen Dämpfer sollen ein Gebäude im Falle eines Erdbebens stabilisieren, indem sie die zerstörerische Energie von Erdstößen absorbieren. Dabei gilt: Je größer der Dämpfer, desto mehr Energie kann er neutralisieren. Der kleinste Dämpfer hat einen Durchmesser von etwa 13 Zentimetern, eine Länge von etwa 90 Zentimetern und nimmt bis zu 25 Tonnen Kraft auf. Taylor Devices hat das System weltweit installiert. "Kein einziges mit unseren Dämpfern ausgestattetes Gebäude ist eingestürzt, oder es hat nach einem Beben nur geringfügige Schäden davongetragen", sagt Gründersohn Doug Taylor stolz. Taylor Devices arbeitet übrigens auch bei den Startanlagen für die neue Mondrakete SLS mit der Nasa zusammen.

Knochenarbeit

Die Suche nach neuen Therapien gegen Knochenschwund wird durch ein an sich ärgerliches Phänomen erleichtert: Bei Astronauten nimmt während der Aufenthalte im All regelmäßig die Knochendichte ab. Da der Knochenabbau in der Schwerelosigkeit besonders schnell voranschreitet, lassen sich neue Behandlungsmethoden gut testen. Bereits die Erkenntnis, dass die Knochendichte häufig aufgrund von Bewegungsdefiziten und nicht wegen eines Vitamin-D-Mangels schwindet, wurde vor Jahrzehnten in der Raumfahrt gewonnen. Mittlerweile steht in den Leitlinien zur Behandlung von Osteoporose, dass zu jeder medikamentösen Therapie auch eine Physiotherapie gehört. Und die Forschung geht weiter: Heutzutage kann der Knochenabbau im All mit regelmäßigem Training teilweise vermieden werden. Bei Experimenten auf der Erde, bei denen an Probanden die negativen Effekte der Schwerelosigkeit auf den Körper simuliert werden, gelingt es sogar schon zu 100 Prozent.

Killer aus Plasma

(Foto: N/A)

Solche sogenannten Bettruhe-Studien wurden in den vergangenen Jahren vor allem vom Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum durchgeführt. Wie wäre es, wenn offene Wunden nicht mit Sprays oder Tinkturen desinfiziert werden müssten, sondern mit - Plasma? Plasma ist eine ziemlich kuriose Angelegenheit - es ist der vierte Aggregatzustand, also nach fest, flüssig und gasförmig. Es entsteht, wenn ein bereits gasförmiger Stoff weiter erhitzt wird. Das beste Beispiel für Plasma ist die Sonne. Physikalisch betrachtet ist Plasma eine ziemlich chaotische Angelegenheit, weil die Hitze dazu führt, dass die Atome ihre normale Struktur verlieren: Die Elektronen verabschieden sich und schwirren allein herum. Gregor Morfill, früher Chef des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE), fragte sich einst, ob die chaotische Struktur des Plasmas nicht gebändigt werden und ob es nicht sogar Plasmakristalle geben könnte. Zumindest theoretisch, so Morfills Berechnungen, sollte das gehen. Das ist erstaunlich, weil Kristalle das genaue Gegenteil eines chaotischen Zustands sind: Ein Plasmakristall - das ist, als würde ein Messie mit einem Pedanten zusammenwohnen. Der Theorie folgten viele Experimente, auch in der Schwerelosigkeit an Bord der Raumstation ISS, bei denen es erstmals gelang, dreidimensionale Kristalle zu erzeugen. Am Ende ging alles noch viel weiter - praktisch als Nebenprodukt der Plasmakristallforschung gelang es, "kaltes Plasma" bei Zimmertemperatur zu erzeugen. Das wiederum kommt jetzt als Produkt zum Einsatz. Das Unternehmen Terraplasma, eine Ausgründung aus der Max-Planck-Gesellschaft, stellt Geräte her, mit denen sich tatsächlich nun etwa Wunden desinfizieren lassen, selbst wenn sie von multiresistenten Keimen befallen sind. Die Patienten spüren nur einen warmen Luftstrom. Erzeugt wird das Plasma durch kleinste Blitze in dem Gerät. Weitere Anwendungen sind denkbar: Mit Plasma lassen sich Gerüche beseitigen und Obst lässt sich haltbarer machen. Pläne, die Geräte für jeden nutzbar zu machen, gibt es bereits.

Luftalarm

Eines der größten Probleme der bemannten Raumfahrt wirkt nur deswegen so banal, weil es auf der Erde so leicht zu lösen ist. Schlechte Luft? Fenster auf! Aber was macht die Besatzung auf der ISS? Das Problem ist so gewichtig, weil es ja nicht nur um schlechte Gerüche, sondern auch um den Kohlendioxidgehalt und Schadstoffe in der Atemluft geht. Auf der ISS werden darum immer wieder neue Systeme getestet, um die Luft zu reinigen oder Sauerstoff zu produzieren. Auf der Erde übernehmen diese Arbeit vor allem die Pflanzen. Weil sie das so gut machen, absolvierte die Nasa in den Achtzigerjahren einige Tests, um auszuprobieren, welche Pflanzensorten effektiv Schadstoffe wie Benzol, Trichlorethylen oder Formaldehyd aus der Luft filtern. Zu ihrer Überraschung stellten die Forscher fest, dass vor allem Erde und Wurzeln für die Reinigung verantwortlich waren. Testweise entfernten sie sogar alle Blätter, sodass lediglich die Stängel stehen blieben - die Ergebnisse veränderten sich kaum. Das Start-up Airy aus Hamburg stieß später auf die Studie. Sie wurde die Basis für ein Produkt: Das Unternehmen verkauft mittlerweile Blumentöpfe, bei denen die Luft an den Wurzeln der Pflanzen entlangströmt und darum gut gereinigt werden soll.

© SZ vom 22.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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