Als Bundesgesundheitsminister könnte Jens Spahn zu Wochenbeginn wieder einmal viel zum Coronavirus sagen. Allein wegen der Zahlen in der Hauptstadt. Doch statt vor den Fernsehkameras sein Pandemiemanagement zu erläutern, schlägt der CDU-Mann heute einen ganz sanften Ton an. Es gehe ihm um "persönliches Schicksal" und "Sicherheit für eine Lebenssituation, in der auf einmal alles infrage gestellt ist", sagt er. Ja, es gehe um "Mitmenschlichkeit". Er wolle Pflegebedürftigen und ihren Familien helfen.
Im Zentrum von Spahns Überlegungen stehen die Kosten für ein Zimmer im Pflegeheim, die vielen Menschen blühen, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können. Mittlerweile liegt die Summe, die Betroffene dafür zahlen müssen, im bundesweiten Durchschnitt bei fast 2000 Euro pro Monat - Tendenz steigend. Denn sobald sich beispielsweise die Löhne für Pflegekräfte verbessern oder eine Einrichtung zusätzliches Personal einstellt, müssen die Bewohner gleich tiefer in die Tasche greifen. So will es das heutige System der Pflegeversicherung, welches immer nur einen Teil der Kosten deckt. Dass sich an diesem unheilvollen Mechanismus, der Pfleger und Gepflegte finanziell gegeneinander ausspielt, etwas ändern muss, bestreiten im Bundestag die wenigsten. Bloß die Vorschläge der Parteien sind denkbar unterschiedlich.
"Diese Reform markiert 25 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung eine grundsätzliche Ergänzung"
Die Sozialdemokraten wollen, wie schon im vergangenen Wahlkampf, eine "Bürgerversicherung" für die Pflege. Sie möchten die Trennung zwischen privat und gesetzlich Versicherten aufheben. Teile der Union und FDP halten mit privaten Zusatzversicherungen dagegen. Staatlich gefördert seien diese "nachhaltig" und "solidarisch", findet Stephan Pilsinger von der CSU. Die Linke sieht das ganz anders. Schon heute reiche eine private Pflegetagegeldversicherung nicht aus, um später die Heimkosten zu decken, sagt Fachpolitikerin Pia Zimmermann. Und das, obwohl deren Preise stetig stiegen. Eine Erhebung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, welche der Süddeutschen Zeitung vorliegt, zeigt, dass seit 2014 immer weniger Menschen eine solche Versicherung abschließen und auch die Zahl der Kündigungen wächst. Zimmermann will eine "Pflegevollversicherung".
Und Spahn? Er greift zu einem alten Vorschlag der SPD und will die reinen Pflegekosten, die neben Miete und Essensgeld auf der Rechnung der Heimbewohner stehen, bei 700 Euro deckeln. Auch wenn einige Bundesländer im Schnitt noch unter diesem Wert liegen - perspektivisch würde das Familien entlasten, zumal der Minister noch eine zweite Grenze einziehen will: länger als drei Jahre soll niemand zahlen.
Doch so mildtätig dieser Vorschlag auch klingt, schließt sich daran gleich die nächste Frage an. Wenn die Familien geschont werden, wer soll dann für die Pflege aufkommen? Für Jens Spahn ist das der Steuerzahler der Zukunft. Insgesamt sechs Milliarden Euro sollen, nach seiner Vorstellung, bald Jahr für Jahr aus dem Bundeshaushalt in die Pflegekasse fließen. Fünf Milliarden in die Heime, eine an pflegende Angehörige. "Diese Reform markiert 25 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung eine grundsätzliche Ergänzung", sagt er. Um nicht zu sagen: eine neue Epoche. Tatsächlich gibt es im deutschen Gesundheitswesen, welches sich überwiegend aus Versicherungsbeiträgen finanziert, im Augenblick nur noch wenig zu holen. Erst Mitte September hatte sich Spahn mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD) darauf geeinigt, im kommenden Jahr fünf Milliarden Euro extra aus dem Steuertopf in den der gesetzlichen Krankenversicherung zu füllen.
Der Grund dafür, so heißt es in einem Papier des Gesundheitsministeriums, sei Corona. "Insbesondere" die Pandemie hinterlasse eine "Finanzierungslücke" von 16 Milliarden Euro. Zu stopfen sei die neben dem Steuergeld auch mit den Rücklagen der Kassen und mit einer Erhöhung für die Versicherten. Der Zusatzbeitrag, der zurzeit bei 1,1 Prozent liegt, steige im Jahr 2021 auf 1,3 Prozent.
Durch diese Rechnung bliebe die Summe, die sich für jeden Arbeitnehmer aus allen Sozialversicherungsbeiträgen ergibt, im nächsten Jahr noch gerade so unter der Marke von 40 Prozent. Hier hatte sich die Koalition eine Grenze gesetzt. Der Haken: Um mehr Geld für die Pflegeversicherung zu verlangen, gebe es jetzt wirklich keinen Spielraum mehr, klagt die SPD-Politikerin Heike Baehrens. Hat also die Coronavirus-Pandemie zu einem Kahlschlag im Gesundheitswesen geführt, der für wichtige Reformen kein Geld mehr übrig lässt? Nicht ganz. Die Krankenkassen kommen zu einem anderen Ergebnis als die beiden Minister. "Die Kosten und die Einnahmeverluste", die Corona verursache, "liegen nach heutiger Erkenntnislage bei rund fünf Milliarden Euro", sagt der Chef des BKK Dachverbands, Franz Knieps. Weitere zehn Milliarden entstammen "Mehrausgaben durch die Spahnsche Gesetzgebung, die mit Corona nichts zu tun haben".
Auch nach anderen Schätzungen aus Kassenkreisen wird allein Spahns Gesetz, das Patienten schneller zu einem Arzttermin verhelfen soll, 2021 mehr als vier Milliarden Euro kosten - weil Ärzte zusätzliches Geld bekommen. Auch Spahns Pflegereform kostet demnach mindestens 2,5 Milliarden Euro. Dabei ist 2021 gar nicht das Problem. Während der Finanzplan von Spahn und Scholz für das kommende Wahljahr steht, sind danach keine Steuerspritzen mehr angedacht. Knieps sagt: "2022 kommt der Wahnsinn."
Er und andere Kassen rechnen damit, dass sich der Zusatzbeitrag dann mindestens verdoppeln muss, um alle Gesetze zu bezahlen: "Schließlich sind dann auch die Reserven der Kassen verbraucht." Spahns Nachfolger müsste dann entscheiden, entweder die Beiträge über die 40-Prozent-Grenze zu erhöhen oder Spargesetze zu beschließen. "Das heißt, bestimmte Patienten würden dann weniger Leistungen erhalten oder müssten Behandlungen zum Teil selbst bezahlen", sagt Knieps. Ein Ausweg wäre nur wieder: Steuergeld.