Es war Europas vorletzter Friedenssommer. Die Angst vor dem drohenden Krieg lastete auf den Menschen. Im März 1938 hatten Hitlers Truppen den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich erzwungen. Nun eskalierte die "Sudetenkrise", die Deutschen machten sich daran, die demokratische Tschechoslowakei zu zerstören.
So war die Situation, als vor 80 Jahren, am 26. August 1938, in Paris 26 Intellektuelle zu einem Kolloquium zusammenkamen. Ort des Treffens war das Institut für Intellektuelle Zusammenarbeit, ein Ableger des Völkerbundes, der im Palais Royal residierte. Die 26 folgten einer Einladung des französischen Philosophen Louis Rougier. Der hatte erfahren, dass sich der amerikanische Publizist Walter Lippmann in Paris aufhielt und überredete diesen, für ein paar Tage mit Europäern über sein neues Buch "The Good Society" zu debattieren.
Die Teilnehmer des "Lippmann-Kolloquiums", als das es in die Geschichte eingehen sollte, verstanden sich in einem sehr weiten Sinne als Liberale. Was sie zusammenbrachte, waren die Sorge um die liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die durch die Weltwirtschaftskrise zutiefst erschüttert worden war, und der, wie es schien, unaufhaltsame Aufstieg von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Die Gruppe hätte heterogener nicht sein können. Lippmann selbst war ein Progressiver, der Präsident Franklin D. Roosevelt unterstützte und den Laissez-faire-Kapitalismus ablehnte.
Ganz anders Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, zwei österreichische Ökonomen im Exil, die möglichst schnell zum alten Liberalismus des 19. Jahrhunderts zurückkehren wollten. Es gab die beiden Deutschen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, die ebenfalls vor den Nazis geflohen waren; der eine liberal-konservativ, der andere eher sozialliberal. Beide forderten - im Gegensatz zu Mises und Hayek - einen starken Staat, der auch aktiv in die Wirtschaft eingriff. Der französische Philosoph Raymond Aron bezeichnete sich damals selbst als "Sozialisten"; er unterstützte die Volksfront aus Kommunisten und Sozialisten in Frankreich, kritisierte aber deren staatsgläubige Wirtschaftspolitik.
Die Teilnehmer des Kolloquiums - es dauerte bis zum 30. August - fassten keine Beschlüsse. Sie suchten aber einen Begriff für den erneuerten Liberalismus, der ihnen vorschwebte. "Linksliberalismus", schlugen einige vor, "positiver Liberalismus", "konstruktiver Liberalismus" oder "Individualismus" andere. Durchgesetzt hat sich schließlich eine andere Bezeichnung: "Neoliberalismus". Der Begriff war nicht ganz neu, aber die Lippmann-Runde benutzte ihn erstmals mit einem theoretischen Anspruch. Daher kann man mit gutem Grund sagen: Vor 80 Jahren wurde in Paris der Neoliberalismus geboren.
Niemand hätte sich damals träumen lassen, welche Karriere der Begriff einmal machen würde. "Neoliberal" - was 1938 Ausdruck eines an sich selbst zweifelnden Liberalismus war, wurde zunächst zum Erfolgsrezept und dann zum Schimpfwort, nicht nur auf der Linken, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft und zunehmend auch an deren rechten Rand. Heute gilt jeder, der Märkte freisetzen möchte, als neoliberal und damit als böse.
Oft drückt "neoliberal" nur das Unbehagen an der modernen Gesellschaft aus
Neoliberalismus sei ein "Programm zur Zerstörung kollektiver Strukturen, die die pure Marktlogik stören könnten", schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Als neoliberal verdammt werden so unterschiedliche Dinge wie die Reformen der "Agenda 2010" von Gerhard Schröder, die Rettungspakete für Griechenland oder auch das geplante, aber von Präsident Donald Trump gekippte, transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP. Oft drückt das Adjektiv neoliberal einfach nur das Unbehagen an der modernen Gesellschaft aus. "Schändet eure neoliberalen Biografien!" nannte der deutsche Dramatiker René Pollesch ein Stück, das 2005 an den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Bei einer der Demonstrationen gegen das Projekt Stuttgart 21 meinte ein evangelischer Pfarrer, es gehe dabei "nicht um einen Bahnhof, sondern um ein neoliberales Schlüsselprojekt".
Schließlich glauben heute viele, der Neoliberalismus trage auch Schuld am Aufkommen des Rechtspopulismus. "Der Neoliberalismus hat Menschen, besonders Arbeiter und Arbeitslose, entwurzelt und ihnen jede Sicherheit, die notwendig für ein planbares Leben ist, geraubt", schrieb Jan Korte, Abgeordneter der Linkspartei, einmal in der Zeit. Das habe dazu geführt, "dass viele Menschen Veränderungen mittlerweile nicht mehr mit Hoffnung, sondern mit Angst begegnen".
Da gibt es einiges aufzuklären. Was bedeutet Neoliberalismus in der Praxis wirklich? Zunächst einmal gibt es eine große neoliberale Erfolgsgeschichte - das westdeutsche Wirtschaftswunder nach 1948. Die Soziale Marktwirtschaft, wie sie Ludwig Erhard durchsetzte, bedeutete nicht nur eine Befreiung aus der nationalsozialistischen Staatswirtschaft, sondern auch die Abkehr von den Kartellen und Machtstrukturen, die Deutschlands Wirtschaft noch aus dem Kaiserreich übernommen hatte. Erhard baute dabei auf die Ideen neoliberaler Denker: Röpke und Rüstow, die in Paris mit dabei waren, außerdem Walter Eucken, Haupt der Freiburger Schule der Nationalökonomie, und der Jurist Franz Böhm.
Ein Vierteljahrhundert später, als das Währungssystem der Nachkriegszeit mit seinen festen Wechselkursen zusammengebrochen war und die Ölpreiskrise die Weltwirtschaft erschütterte, kam es zu einer konservativ-liberalen Trendwende. Premierministerin Margaret Thatcher in Großbritannien und Präsident Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten reformierten ihre Länder im Sinne Hayeks und des Neoliberalen Milton Friedman von der Universität Chicago. Die Ergebnisse waren widersprüchlich. Es gelang zwar, die Wirtschaft zu revitalisieren, aber um den Preis wachsender sozialer Gegensätze und dramatisch höherer Staatsschulden. Verheerend für das Bild des Neoliberalismus wirkte sich Milton Friedmans Sündenfall aus, sein Besuch bei dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet 1975.
In Deutschland fiel die Rückbesinnung auf die Marktkräfte vergleichsweise moderat und konfliktarm aus. Einige der Erfolge sind so selbstverständlich geworden, dass kaum noch jemand darüber nachdenkt. Wer will in die Zeiten zurück, in denen man sein Telefon beim Staatsmonopolisten Deutsche Bundespost "beantragen" musste, das grau war, von Siemens kam und fest mit der Buchse verbunden war? Wer wollte rechtspopulistisch werden, weil es mehrere Handyanbieter gibt?
Zum gebräuchlichen Schimpfwort wurde "neoliberal" paradoxerweise erst nach dem Fall der Berliner Mauer, als der Sozialismus, wie man meinte, für alle Zeiten diskreditiert war. Tatsächlich entstand jedoch ein neues Narrativ, das ungefähr so ging: Nun, da es keine Systemkonkurrenz mehr gibt, hat es "der" Kapitalismus nicht mehr nötig, sozial zu sein und zeigt sein wahres Gesicht. Das Argument entbehrt insofern nicht einer gewissen Komik, als es unterstellt, dass im Kalten Krieg die Arbeitermassen des Westens nur durch soziale Wohltaten davon abgehalten werden konnten, in die DDR oder die Sowjetunion zu fliehen. Aus der Rückschau ist klar, was nach der Zeitenwende von 1989 ökonomisch geschah: Über eine Milliarde Menschen in China und im früheren Ostblock bekamen die Chance, am globalen Wettbewerb um ein besseres Leben teilzunehmen, was im Westen viele als bedrohliche "Entgrenzung" empfanden, der sie dann das Adjektiv "neoliberal" anpappten.
Dann kam die Finanzkrise von 2008. Sie nutzte in den USA tatsächlich den Rechtspopulisten und führte letztlich zur Wahl von Donald Trump. Die Krise hatte auch etwas mit dem Abbau von Regeln auf den Finanzmärkten zu tun. Nur war dies kaum neoliberal motiviert. Vielmehr ging es unter Präsident Bill Clinton darum, für Benachteiligte mehr Hauskredite verfügbar zu machen. Außerdem wurden einige Regeln nur deshalb abgeschafft, weil niemand den Zusammenhang von Finanzmärkten und Makroökonomie verstand.
Trotzdem stand für viele hinterher fest: Die Neoliberalen sind schuld am Rechtspopulismus. Die Politologin Wendy Brown von der Universität Berkeley etwa schrieb, der Neoliberalismus habe zwar keine Neofaschisten geschaffen, wohl aber das Klima, in dem sie gedeihen, und zwar durch ihr auf den Markt reduziertes Freiheitsverständnis und den ständigen Angriff auf "das Soziale". Andere machen es sich noch einfacher. Der Neoliberalismus sei "die Idee, die die Welt verschlingt", hieß es in der linken Wochenzeitung Der Freitag.
Die Frage, ob der Neoliberalismus wirklich der Schuldige ist, beantwortet sich von selbst, wenn man in einzelne Länder blickt. Frankreich zum Beispiel hat bisher kaum Reformen erlebt, die man als "liberal" bezeichnen könnte. Der Aufstieg des rechtsextremen Front National dort hat eher mit diesem Mangel an Reformen zu tun, mit dem Niedergang der nordfranzösischen Industrie und der Desavouierung der Kommunisten.
Wo Populisten regieren, fehlen häufig liberale Reformen
Auch Italien, wo heute der Populismus regiert, ist ein Land gescheiterter oder unterlassener Reformen. Polen dagegen ist der wirtschaftlich erfolgreichste unter den postkommunistischen Staaten Europas und wird doch populistisch regiert. In Tschechien ist die Arbeitslosigkeit niedriger als in Deutschland. Trotzdem regiert in Prag ein pro-russisches Bündnis von Rechtspopulisten und Sozialdemokraten, das von den Kommunisten gestützt wird. Auch die Wähler der deutschen AfD gehören, wie Umfragen zeigen, nicht zu den "Abgehängten", sondern sind in allen Schichten.
Tatsächlich ist der Populismus eine Reaktion auf den Veränderungsstress, dem alle modernen Industriegesellschaften ausgesetzt sind: Digitalisierung, der Aufstieg Chinas als Handelsmacht, demografischer Wandel und, an erster Stelle, Migration. Mit Neoliberalismus hat das alles wenig zu tun. Dass aber in dieser Situation weite Teile der Gesellschaft - durchaus im Einklang mit den Rechtspopulisten - liberales Denken erst als "neoliberal" brandmarken und dann verteufeln, verheißt nichts Gutes. Der 80. Jahrestag des Lippmann-Kolloquiums böte einen guten Anlass, dies zu überdenken.