Negativzinsen:Immerhin der Seeblick bleibt gratis

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Am Tegernsee haben es Banker mit speziellen Schwierigkeiten zu tun: Viele wohlhabende Bürger, wenig Unternehmen, die Kredite brauchen. (Foto: Johannes Simon)
  • Im August erregte eine kleine Raiffeisenbank am Tegernsee Aufsehen, weil sie als erste den Negativzins für Privatkunden einführte.
  • Bis heute hat es ihr keine Bank in Deutschland nachgemacht - doch für den Chef der Filiale war die Strategie ein großer Erfolg.

Von Harald Freiberger, Gmund/Miesbach

An einem Tag im August 2016 wurde Josef Paul, der Chef der Raiffeisenbank Gmund am Tegernsee, zum Medienstar. "Schon in der Früh rief das Bayerische Fernsehen an, dass sie zum Drehen kommen", sagt er neun Monate später in seiner Bank mit Seeblick. Er fragte noch, wann sie denn kämen, da sagten sie, dass sie schon auf der Autobahn seien. "Und nach dem Interview meinten sie, wenn ein anderer Fernsehsender anfragt, soll ich sagen, das Bayerische Fernsehen ist schon dagewesen", erzählt er amüsiert.

Es kamen dann aber doch noch ein paar andere - vom Fernsehen, vom Radio, von Zeitungen. Am Abend rief ihn sein Sohn an: "Papa, ich hab dich grad in den Nachrichten gesehen." Was denn da los sei.

Die Wellen schlugen hoch am idyllischen Tegernsee, der passenderweise zu der Zeit auch noch Hochwasser führte. So kann es kommen, wenn eine kleine Genossenschaftsbank als erstes Institut in ganz Europa von ihren Privatkunden einen Negativzins verlangt. 139 Kunden, die mehr als 100 000 Euro auf dem Girokonto parkten, hatte Paul in den Wochen davor angeschrieben. Man müsse darüber reden, das Geld umzuschichten, weil er selbst darauf Negativzins zahlen müsse, den die Europäische Zentralbank, die EZB, von Banken für kurzfristig angelegtes Geld nehme. Wenn es auf dem Girokonto bleibe, müsse er die 0,4 Prozent Negativzins weitergeben. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte davon erfahren und berichtet. Dann brach am Tegernsee der Sturm los.

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Josef Paul, 60, ein großer, schlanker Mann mit vollem Haar und Goldrand-Brille, sitzt in seinem Vorstandszimmer. An der Wand hängt ein Gemälde mit einer düsteren Ansicht vom Tegernsee. Paul steht auf, geht zum Schrank und holt eine vier Zentimeter dicke Hängemappe heraus. Darin hat er alle Artikel gesammelt, die seither über seinen Fall erschienen sind. Jemand schickte ihm einen Artikel aus einer italienischen Zeitung, darauf ein großes Foto von ihm vor seiner Bank mit den hölzernen Fensterläden. "Tengo i tuoi risparmi se mi paghi", steht in großen Lettern darüber: Wenn Sie mich zahlen, behalte ich Ihre Ersparnisse. Bis aus Japan fragten die Medien an, und die Nachrichtenagentur Bloomberg wollte ein Interview aus London führen, doch das habe er abgesagt. "Dafür reicht mein Englisch nicht", sagt er.

Josef Paul versteht bis heute nicht, warum alle so aufgeregt waren wegen seiner Aktion. "Das ist für mich die natürlichste Sache der Welt, dass ich Kosten, die ich selber habe, an die Kunden weitergebe", sagt er. Eigentlich habe er auch nur mit seinen Kunden darüber reden und nicht weltweites Aufsehen erregen wollen.

Josef Paul sieht auch Positives an den Negativzinsen. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Die Aufregung kam daher, dass viele einen Dammbruch befürchteten, der vom Tegernsee aus den Rest der Republik überflutet: dass bald jeder Sparer auf sein Geld bei der Bank einen Strafzins zahlen muss. Eine Sorge, die bis heute unbegründet ist. Auch neun Monate später ist keine weitere Bank hinzugekommen.

Warum aber hat es Josef Paul dann überhaupt gemacht? "Uns hat's das Geschäftsmodell zerrissen", sagt er. Die kleine Raiffeisenbank Gmund habe eine spezielle Kundenstruktur. Am Tegernsee, den Spötter "Lago di Bonzo" nennen, wohnen besonders viele Reiche mit großen Ersparnissen. Andererseits gibt es kaum große Firmen, die Kredite nachfragen. Bei der Raiffeisenbank, die nur vier Filialen rund um den See herum hat, führt dies zu einem Überhang an Liquidität. Im vergangenen Sommer wuchs dieser auf 40 Millionen Euro. "Ich muss auf jede Million im Jahr aber 4000 Euro Negativzins zahlen", sagt Paul. Das summierte sich auf 160 000 Euro im Jahr - viel Geld für eine kleine Bank.

Und es wurde mehr. "Es kamen stetig neue Kunden hinzu, und wir können das Geld selbst nicht anders unterbringen, weil bei kurzfristigen Anlagen der Zins überall negativ ist." Die Liquidität stand Josef Paul, der gern in Bildern und Zitaten spricht, bis zum Hals. Zu den immer weiter wachsenden Einlagen fällt ihm eine Zeile des Liedermachers Hannes Wader ein: "So vergeht Jahr um Jahr, und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war."

Also überlegte Paul vor einem Jahr, was er tun könnte, damit die Liquidität zurückgeht. Er schaute auf seine Liste mit den Girokonten und zählte 139 Kunden mit mehr als 100 000 Euro kurzfristig angelegtem Geld. Diese repräsentierten genau den Einlagen-Überhang von 40 Millionen Euro. Und die schrieb er an.

Die meisten Kunden waren schnell bereit, das Geld anderweitig anzulegen, zum Beispiel in Fonds, bei denen keine Negativzinsen fällig werden. Manche zogen ihr Geld auch ab, einer wechselte in den Tagen danach mit zwei Millionen Euro zur Sparkasse. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die darüber glücklich war", sagt Paul trocken. Er könne den Verlust von Kunden verschmerzen, die ihr Geld "nur herumliegen und nicht arbeiten lassen". Seine Bilanz fällt nach neun Monaten jedenfalls positiv aus: Aus 40 Millionen Euro Liquidität sind 24 Millionen geworden, das kostet die Bank im Jahr 56 000 Euro weniger.

Josef Paul geht zu seinem Schreibtisch und holt ein Blatt Papier. Auf ihm stehen 18 Zeilen mit ungeraden Beträgen von 33,33 Euro oder 66,67 Euro. Es ist die Liste der noch 18 Privat- oder Firmenkunden, die mehr als 100 000 Euro bei ihm kurzfristig angelegt haben. Den Negativzins kassiert er jeden Monat von ihnen. Er berechnet ihn in Schritten von 100 000 Euro. Daher die ungeraden Zahlen: Ein Zins von 0,4 Prozent auf 100 000 Euro ergibt 33,33 Euro im Monat. Der höchste Betrag auf der Liste liegt bei 299,97 Euro, was heißt, dass der Kunde mehr als 900 000 Euro auf dem Girokonto liegen hat.

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Josef Paul hatte damit gerechnet, dass mancher Kunde verärgert reagiert, aber da war nicht viel. "Die meisten haben Verständnis dafür", sagt er. Überhaupt ist er gut aus der Aktion herausgekommen, auch in der Öffentlichkeit. Ein Banken-Fachblatt porträtierte ihn unter der Überschrift "Ein mutiger Banker", in einer Zeitung war er der "Kopf des Tages". Nur in einer anonymen E-Mail fragte ihn jemand: "Müssen Sie aus kurzfristigem Nutzen Kunden verprellen, die Sie später wieder brauchen?" Das war aber die Ausnahme. Zwei Wochen lang bearbeitete Paul Briefe, E-Mails und andere Reaktionen, die meisten waren positiv. Vielleicht liegt es ja daran, dass da jemand nicht herumdruckst, wie man es aus der Branche gerade seit Ausbruch der Finanzkrise kennt, verschämt Gebühren einführt, die im Kleingedruckten versteckt sind, sondern klar sagt: So ist die Lage, das sind meine Kosten, die muss ich weitergeben. Vielleicht verstehen die Kunden das.

Paul seinerseits versteht nicht, warum seine Bank immer noch die einzige in Europa ist, die so verfährt. "Mir hat noch niemand erklären können, warum das so ist", sagt er. Die gängigen Erklärungen überzeugen ihn nicht: Dass man Angst habe vor dem Imageschaden, dass man Kunden nicht vergraulen wolle.

Vielleicht kann es ja Martin Mihalovic erklären, der Chef der Kreissparkasse Miesbach-Tegernsee. Er ist der Mann, der von Josef Pauls Aktion eigentlich profitieren müsste. Mihalovic, 48, sitzt in seiner Zentrale in Miesbach, zehn Kilometer von Gmund entfernt. Im Besprechungsraum war vorher eine Teamsitzung, auf dem Flipchart steht noch der Satz: "Feedback = Kommunikation x Haltung x Beziehung." Mihalovic ist ein Sparkassler der jüngeren Generation, man erkennt es daran, dass er Schuhe mit modischer Doppelschnalle trägt und keine Krawatte.

Wie war das im August, als Konkurrent Paul den Negativzins ankündigte? "Der ein oder andere ist schon zu uns gewechselt, aber es war nicht so, dass die Leute mit Schubkarren voll Geld reinkamen", sagt Mihalovic. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Raiffeisenbank Gmund deutlich kleiner ist als die Kreissparkasse, die den gesamten Landkreis Miesbach abdeckt und nicht nur vier Orte rund um den Tegernsee. Die Sparkasse hat auch deutlich mehr Firmenkunden, es fällt ihr leichter, die Einlagen als Kredite zu verleihen. Die Liquidität, auf die Negativzinsen fällig sind, schwankt zwischen vergleichsweise niedrigen 20 und 40 Millionen Euro.

Für Josef Paul hat der Negativzins etwas sehr Positives

Mihalovic hat Verständnis für seinen Konkurrenten aus Gmund. Andererseits findet er einen Negativzins für Privatkunden schwierig. "Wir sind dem Kunden über Jahrhunderte hinterhergelaufen und haben ihm gesagt, er soll uns sein Geld bringen", sagt er. Da könne man nicht, wenn es mal eine Zeitlang anstrengender werde, von seinem Ersparten nehmen. Er glaubt, dass dies das Vertrauen der Kunden belastet, das wolle er unbedingt vermeiden, sagt er und drückt damit aus, was die Mehrheit der deutschen Banker denkt.

Josef Paul aber schwimmt weiter gegen den Strom. Er findet sogar, dass der Negativzins etwas Positives hat: "Er macht den Leuten bewusst, dass sie ihr Geld in die Arbeit schicken müssen und nicht herumliegen lassen sollen", sagt er. Sie sollten es in attraktivere Anlagen investieren, in den Aktienmarkt, in besser verzinste Anleihen, das sei gerade für die Altersvorsorge wichtig. "Ausländer vertrauen den deutschen Unternehmen mehr als wir selbst. Warum schaffen wir es nicht, in unsere eigenen Unternehmen zu investieren?", fragt der Bankchef vom Tegernsee. Gerade organisiert er eine Ausstellung, in der er den Leuten erklären will, wie Geldanlage richtig geht, Seeblick inklusive.

Den Negativzins will er auf jeden Fall beibehalten, solange ihn auch die EZB verlangt. "An dem Tag, an dem der Draghi den Strafzins abschafft, an dem stellen wir auch die Abrechnung ein", kündigt er an. Es besteht also eine Chance, dass sich die Wogen am Tegernsee wieder glätten.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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