An einem Tag im August 2016 wurde Josef Paul, der Chef der Raiffeisenbank Gmund am Tegernsee, zum Medienstar. "Schon in der Früh rief das Bayerische Fernsehen an, dass sie zum Drehen kommen", sagt er neun Monate später in seiner Bank mit Seeblick. Er fragte noch, wann sie denn kämen, da sagten sie, dass sie schon auf der Autobahn seien. "Und nach dem Interview meinten sie, wenn ein anderer Fernsehsender anfragt, soll ich sagen, das Bayerische Fernsehen ist schon dagewesen", erzählt er amüsiert.
Es kamen dann aber doch noch ein paar andere - vom Fernsehen, vom Radio, von Zeitungen. Am Abend rief ihn sein Sohn an: "Papa, ich hab dich grad in den Nachrichten gesehen." Was denn da los sei.
Die Wellen schlugen hoch am idyllischen Tegernsee, der passenderweise zu der Zeit auch noch Hochwasser führte. So kann es kommen, wenn eine kleine Genossenschaftsbank als erstes Institut in ganz Europa von ihren Privatkunden einen Negativzins verlangt. 139 Kunden, die mehr als 100 000 Euro auf dem Girokonto parkten, hatte Paul in den Wochen davor angeschrieben. Man müsse darüber reden, das Geld umzuschichten, weil er selbst darauf Negativzins zahlen müsse, den die Europäische Zentralbank, die EZB, von Banken für kurzfristig angelegtes Geld nehme. Wenn es auf dem Girokonto bleibe, müsse er die 0,4 Prozent Negativzins weitergeben. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte davon erfahren und berichtet. Dann brach am Tegernsee der Sturm los.
Josef Paul, 60, ein großer, schlanker Mann mit vollem Haar und Goldrand-Brille, sitzt in seinem Vorstandszimmer. An der Wand hängt ein Gemälde mit einer düsteren Ansicht vom Tegernsee. Paul steht auf, geht zum Schrank und holt eine vier Zentimeter dicke Hängemappe heraus. Darin hat er alle Artikel gesammelt, die seither über seinen Fall erschienen sind. Jemand schickte ihm einen Artikel aus einer italienischen Zeitung, darauf ein großes Foto von ihm vor seiner Bank mit den hölzernen Fensterläden. "Tengo i tuoi risparmi se mi paghi", steht in großen Lettern darüber: Wenn Sie mich zahlen, behalte ich Ihre Ersparnisse. Bis aus Japan fragten die Medien an, und die Nachrichtenagentur Bloomberg wollte ein Interview aus London führen, doch das habe er abgesagt. "Dafür reicht mein Englisch nicht", sagt er.
Josef Paul versteht bis heute nicht, warum alle so aufgeregt waren wegen seiner Aktion. "Das ist für mich die natürlichste Sache der Welt, dass ich Kosten, die ich selber habe, an die Kunden weitergebe", sagt er. Eigentlich habe er auch nur mit seinen Kunden darüber reden und nicht weltweites Aufsehen erregen wollen.
Josef Paul sieht auch Positives an den Negativzinsen.
(Foto: Peter Kneffel/dpa)Die Aufregung kam daher, dass viele einen Dammbruch befürchteten, der vom Tegernsee aus den Rest der Republik überflutet: dass bald jeder Sparer auf sein Geld bei der Bank einen Strafzins zahlen muss. Eine Sorge, die bis heute unbegründet ist. Auch neun Monate später ist keine weitere Bank hinzugekommen.
Warum aber hat es Josef Paul dann überhaupt gemacht? "Uns hat's das Geschäftsmodell zerrissen", sagt er. Die kleine Raiffeisenbank Gmund habe eine spezielle Kundenstruktur. Am Tegernsee, den Spötter "Lago di Bonzo" nennen, wohnen besonders viele Reiche mit großen Ersparnissen. Andererseits gibt es kaum große Firmen, die Kredite nachfragen. Bei der Raiffeisenbank, die nur vier Filialen rund um den See herum hat, führt dies zu einem Überhang an Liquidität. Im vergangenen Sommer wuchs dieser auf 40 Millionen Euro. "Ich muss auf jede Million im Jahr aber 4000 Euro Negativzins zahlen", sagt Paul. Das summierte sich auf 160 000 Euro im Jahr - viel Geld für eine kleine Bank.
Und es wurde mehr. "Es kamen stetig neue Kunden hinzu, und wir können das Geld selbst nicht anders unterbringen, weil bei kurzfristigen Anlagen der Zins überall negativ ist." Die Liquidität stand Josef Paul, der gern in Bildern und Zitaten spricht, bis zum Hals. Zu den immer weiter wachsenden Einlagen fällt ihm eine Zeile des Liedermachers Hannes Wader ein: "So vergeht Jahr um Jahr, und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war."
Also überlegte Paul vor einem Jahr, was er tun könnte, damit die Liquidität zurückgeht. Er schaute auf seine Liste mit den Girokonten und zählte 139 Kunden mit mehr als 100 000 Euro kurzfristig angelegtem Geld. Diese repräsentierten genau den Einlagen-Überhang von 40 Millionen Euro. Und die schrieb er an.