Noch vor einigen Monaten war Jochen Kopitzke nicht so bewusst, dass die Autoindustrie einer seiner direkten Mitbewerber um Komponenten der Bauelektronik ist. Gleiche Bauteile für Kühlschränke und SUVs - das klingt im ersten Moment ungewöhnlich, aber moderne Technologie basiert in beiden Branchen nun einmal auf dem gleichen winzigen Ursprung: dem Mikrochip. Und weil das leidige Thema Corona die Versorgung mit den Chips massiv erschwert, kommen sich Daimler, BMW oder Porsche jetzt eben auch mit dem Medizintechnik-Unternehmen Philipp Kirsch in die Quere, das Gefrier- und Kühlschränke für Medikamente, Blutkonserven und Labore herstellt, wie der Geschäftsführer Kopitzke berichtet.
Es ist ein ungleicher Kampf, wenn ein Mittelständler aus Willstätt gegen die Weltelite des Autobaus antritt. Weltelite ist Philipp Kirsch zwar auch, aber eben in anderen Dimensionen. "Die Autoindustrie hat eine riesige Einkaufsmacht, von der wir als Mittelständler nur träumen können. Trotzdem kämpfen wir mit ihr um die Prozessoren", sagt Kopitzke.
Dabei steht für Philipp Kirsch nicht weniger auf dem Spiel als die Aufrechterhaltung der eigenen Produktion. Die Rechnung lautet simpel: ohne Chips keine Kühl- und Gefrierschränke. Die Prozessoren kosten das Unternehmen inzwischen den 25-fachen Preis dessen, was sie vor Ausbruch der Corona-Pandemie gekostet haben. Eine bittere Pille, wie Geschäftsführer Kopitzke sagt, aber "wir sind glücklich, dass wir mit deutschen Zulieferern Wege gefunden haben, um die Produktion fortzuführen. Auch wenn es uns sehr wehtut".
Wenn Kopitzke von "uns" spricht, dann meint er zwar in erster Linie sein eigenes Unternehmen, und dennoch spricht er auch von "uns" als Gesellschaft. Denn Preissteigerungen in den Lieferketten betreffen letzten Endes auch die Konsumenten. Denn die müssen ihren Anteil an den Teuerungen zwangsläufig mittragen. Nicht nur, wenn es um Laborkühlschränke geht, sondern auch, wenn weite Teile der industriellen Wertschöpfung betroffen sind.
Als Vorsitzender im Industrie-Ausschuss Oberrhein Süd in der IHK sieht Kopitzke, wie die Problematik tief in die Wertschöpfungsketten eindringt. Auch Handwerker würden inzwischen "von Baustelle zu Baustelle springen" müssen und schauen, dass sie dort Stück für Stück ihre Arbeit vollenden. Je nachdem, welche Materialien und Bauteile gerade zur Verfügung stehen, würden sie entscheiden, welchen Auftrag sie als nächstes fortführen.
Nun mag es nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten, wenn die Reparatur eines tropfenden Wasserhahnes wochenlang hinausgezögert wird. Doch systemrelevante Sektoren wie die Medizintechnik sind sensible Bereiche, die das Gerüst bilden für die stabile Entwicklung einer Gesellschaft. Kopitzke beobachtet diese Entwicklung deshalb mit Sorge. "Die Frage, die sich stellt, lautet doch, wie lange sich ein Gesundheitswesen solche Preissteigerungen leisten kann. Die Investitionsgüter-Industrie bekommt es bei solchen Inflationsfällen immer als erstes zu spüren", sagt er.
Die Konsequenzen, die Engpässe nach sich ziehen, hat nicht nur das Familienunternehmen Philipp Kirsch zu spüren bekommen. Auch der Geschäftsführer erlebte die Notsituation am eigenen Leib. Im vergangenen Jahr wurde er erstmals Vater. Das übliche Familienzimmer in Kliniken, in dem Neugeborene einige Nächte gemeinsam mit Mutter und Vater einquartiert werden, stand nicht zur Verfügung. Wenn Corona eines Tages als besiegt gilt, werden Familienzimmer natürlich wieder angeboten. Doch die Knappheit medizinischer Güter könnte wegen dauerhafter Einschränkungen anhaltend problematisch werden. Eine Art Stresstest des Gesundheitswesens.
Schon vor Corona entschied die Firma, dass es wichtige Komponenten nur in Deutschland oder der Europäischen Union einkauft
Zumal Deutschland und die Europäische Union feststellen mussten, dass manche Komponenten industrieller Bauteile nur noch in Asien hergestellt werden. Kopitzke fürchtet, dass insbesondere die chinesische Regierung an neuralgischen Punkten der Wertschöpfung am längeren Hebel sitzt. "China hat gelernt, wie es bestimmte Entwicklungen steuern kann, indem es Exporte reguliert, um bestimmte Güter aus Vorsicht für sich selbst zu horten, oder um damit andere Länder zu bestimmten Entscheidungen drängen zu wollen", sagt er.
Die möglichen politischen Konsequenzen aus dieser Konstellation verursachen Unbehagen beim Chef der Philipp Kirsch GmbH. Nicht erst seit gestern. Schon vor einigen Jahren entschied das Unternehmen, dass es wichtige Bestandteile für die Kältetechnik und Elektrotechnik eben deswegen ausschließlich in Deutschland oder andern Teilen der Europäischen Union einkauft. Einen seiner zentralen Zulieferer überzeugte Kopitzke sogar, seine Pläne zur Auslagerung der Produktion nach China abzublasen. Das war sogar noch vor der Corona-Pandemie.
"Damals haben wir ganz klar gesagt, dass wir das nicht mitmachen. Vor zwei Jahren überwog vielleicht noch unsere Überzeugung, dass Made in Germany nur auf einem Produkt stehen sollte, wenn die Fertigung neben technologischen Standards tatsächlich auch deutschen Umwelt- und Sozialstandards entspricht", sagt Kopitzke. Inzwischen sei die Erkenntnis hinzugekommen, dass eine zu große Abhängigkeit von der Volksrepublik China immensen Schaden für Deutschland nach sich ziehen kann.
Die Lösung könnte lauten, die Produktion unverzichtbarer Bestandteile, ganz gleich in welcher Industrie, nach Europa zurückzuholen. Und tatsächlich hat Kopitzke im Rahmen seiner IHK-Tätigkeit diese Entwicklung schon festgestellt. Doch Preissteigerungen für zahlreiche Güter bleiben ein Hindernis. Nur wenn die Konsumenten bereit seien, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, ergebe es betriebswirtschaftlich Sinn für die Unternehmen, auf entsprechende Zulieferungen aus China zu verzichten.
Momentan spielen die Konsumenten mit. Allerdings auch deshalb, weil sich die Transportkosten im globalen Lieferkettennetz fast verzehnfacht haben. Das macht die Produkte aus Asien deutlich teurer und den Einkauf innerhalb Europas deswegen erschwinglich. Doch ewig wird das Coronavirus nicht wüten. Wenn die Pandemie überstanden sein wird, werden die Transportkosten massiv sinken. Erst dann wird sich herausstellen, was Deutschlands Konsumenten und Industriebetriebe aus den vergangenen knapp zwei Jahren gelernt haben.