Kommune Niederkaufungen:Unser Stall, unser Baum, unser Beet

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Wie viel sind Lebensmittel wert? Die Mitglieder der Kommune Niederkaufungen sagen: weit mehr als Autos oder Urlaub. Sie haben ihre Maßstäbe verändert, auch wenn es Geld kostet und anstrengend ist. Ein Besuch bei Menschen, die besonders leben und essen.

Von Hans von der Hagen und Nakissa Salavati

Hier streifen Menschen ihr altes Leben ab. In einem Ensemble von Fachwerkhäusern, Werkstätten, zwischen Elektromobilen aller Art und einem Trecker, 59 Jahre alt. Hier - das ist die älteste Kommune Deutschlands, die sich 1986 mitten in Niederkaufungen angesiedelt hat, einem Vorort von Kassel. Kommune ist dabei im klassischen Sinn zu verstehen: links.

Die Kommune ist ein soziales Experiment. Ein gewagtes noch dazu. Etwa 60 Erwachsene und knapp 20 Kinder wohnen hier. Einzutreten, "das ist wie heiraten", sagt Christine Rüther, 35. Man müsse sich das schon sehr genau überlegen. Sie hat das vor fünfeinhalb Jahren gemacht, obwohl sie auf ein solches Leben schon gut vorbereitet war: Zunächst durch ihre sieben Geschwister und später durch Wohngemeinschaften in unterschiedlichen Ausprägungen.

Darum war für Rüther die Kommune weniger ein Bruch mit dem bisherigen Leben als ein Sprung auf eine neue Ebene. Trotzdem hieß das: volles Risiko. Sie stellte wie die übrigen Kommunarden ihr gesamtes Eigentum der Gemeinschaft zur Verfügung und gab ihre Privatheit auf. Dafür teilt und bewältigt sie nun das Leben mit Menschen, die die gleichen Grundsätze wie sie selbst verfolgen. Die Kommune Niederkaufungen ist wie ein Kloster ohne Gott. Auch wenn die Kirche gleich gegenüber den lieben langen Tag glöckelt.

Größter Ausgabenposten: Lebensmittel

Rüther bekommt zwar für ihre Arbeit einen Lohn, doch der fließt in die gemeinsame Kasse. Leben und Arbeit verschmelzen, weil Rüther wie die meisten übrigen Kommunarden auch in der Kommune arbeitet. Wenn Rüther Geld braucht, nimmt sie es sich einfach aus der Kasse. Ausgaben von mehr als 150 Euro stellt sie an einem Schwarzen Brett zur Diskussion.

Klingt heikel? Ist es nicht. Zwar werde auch in der Kommune viel gestritten, aber seltener ums Geld, sagt Rüther. Das Thema Arbeit stehe hingegen oft im Mittelpunkt, denn die Kommune muss mit ihren Arbeitsbereichen wie der Holzwerkstatt oder dem Verkauf von Lebensmitteln Geld verdienen. Eine gemeinsame Ökonomie fordert schnöde Zahlenarbeit. Und wer die Aushänge am Schwarzen Brett studiert, sieht, wie penibel das die Kommune macht. Einnahmen im Januar: 56.784,71 Euro, Ausgaben 53.953,44 Euro ist dort zu lesen. Die Erwachsenen haben im Schnitt 870,22 Euro verbraucht.

Größter Ausgabenposten sind mit knapp 7700 Euro die Lebensmittel. Einerseits ist das natürlich ärgerlich - so viel Geld für das Essen. Gerne würde sich die Kommune komplett selbst versorgen, sagt Rüther. Doch das gelänge nicht. Zu viele Gäste kämen vorbei, darum müsse hinzugekauft werden.

Andererseits zeigt der Betrag aber: Wenn's ums Essen geht, rechnen die Kommunarden nicht mit kleiner Münze. Wenn sie Essen schon nicht selbst produzieren können, dann kaufen sie die Qualität, die sie gerne produzieren würden.

Und mit der Produktion kennt sich die Kommune aus: Sie unterhält einen Hof mit zehn Kühen, mehreren Schweinen und betreibt eine Käserei. Daneben gibt es das Gemüsekollektiv "Rote Rübe", in dem Rüther arbeitet und obendrein noch eine Obstmanufaktur, die es mittlerweile zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Luxus? Vielleicht. Auf jeden Fall aber ist ein Modell, das die Mitglieder ernährt und sich auch noch rechnet. Zeit, sich das genauer anzusehen.

"Eine gute Kuh hat Charakter", sagt Kathrin Sonntag, "Sie schlägt nicht, ist friedlich, kräftig, wird alt." Und das Euter. Das müsse gesund sein. "Lieber weniger Milch, dafür aber ein gesundes Euter." Während sie das sagt, reibt sie die rosaroten Zitzen von Kuh Berta sauber, melkt kurz mit der Hand vor und schließt dann die Melkmaschine an. Berta ist eine von zehn Milchkühen im Hof Birkengrund, dem Bioland-Betrieb der Kommunarden, einige Kilometer von den Wohnräumen entfernt.

Es ist eisig an diesem Februarmorgen. Die Sonne geht auf, der Misthaufen dampft. Hier verbreitet sich Bauernhof-Romantik, würde ein Städter sagen. Bäuerin Sonntag sagt: "Es ist viel Arbeit, der Hof wirft nicht viel ab. Aber ich kann mir nichts anderes vorstellen".

Für die Kommune ist der Hof wichtig, weil er einen Kreislauf ermöglicht und Verschwendung reduziert: Die Kühe geben Milch, sie wird verbraucht oder zu Käse verarbeitet. Das Abfallprodukt Molke und Reste aus der Küche bekommen die Schweine. Nur dafür, als Verwerter, hat die Kommune sie angeschafft. Die Tiere landen irgendwann als Wurst oder Filet auf dem Teller der Kommunarden.

Ohne Diskussionen geht das freilich nicht: Wird ein Tier getötet, erzählt Kathrin das den anderen Kommunarden. Wer Fleisch will, muss das Schlachten ertragen. "Das gehört dazu, wir wollen diesen Bezug", sagt sie. Dieser Bezug bedeutet für manche eben auch: Vegetarier werden. Für andere: Berta dankbar sein.

Jan Bade räumt erst mal auf. Mit etwaigen Wissensmängeln. Aus einem Apfel mit zehn Kernen würde nicht dieselbe Sorte Apfel entstehen - sondern zehn neue Sorten. Bade schaut dabei sehr ernst. Das Geschäft mit dem Apfel, das ist nun klar, ist heikel. Wer die gleiche Sorte Apfel vermehren wolle, brauche Reiser, sagt Bade, also einjährige Zweige, die vom Baum geschnitten wurden. Nur die Knospen daran trügen das identische Erbgut des Baumes.

Und dann die Sortenbestimmung. Da läuft vieles falsch. Das, was in Baumschulen verkauft werde, sei zu 30 Prozent verkehrt. "Kaufst einen Cox Orange, investierst viele Jahre Zeit in den Baum, und wenn er dann zum ersten Mal trägt, hängt ein Boskop dran", sagt er und schaut noch ernster. Das sei leider Standard.

Er habe auch für die Deutsche Genbank Obst überprüft. Selbst dort - überall Fehler. Es ist eine Freude, Bade zuzuhören. Und das tun mittlerweile viele: Er ist einer von vielleicht fünf Pomologen in Deutschland. Er und seine Mitkommunarden halten Vorträge und Fortbildungen, geben Baumschnitt-Kurse, organisieren Messen und Menschen aus ganz Deutschland schicken Äpfel und Birnen in die Kommune, wenn sie nicht wissen, um welche Sorte es sich handelt.

Bade sagt, schon vor fünf Jahren habe er gedacht, jetzt müsse es doch allmählich vorbei und alle Sorten bestimmt sein. Und lächelt. Doch das Gegenteil sei der Fall. Das Geschäft mit dem Apfel boomt, weil die Deutschen ihre alten Bäume wiederentdecken. Die Kommune profitiert davon: Die Obstmanufaktur versorgt die Kommune nicht nur, sie bringt auch noch Geld, auch wenn das zunächst gar nicht so geplant war.

Eine Lieblingssorte hat Bade übrigens nicht. Die ganze Saison über gebe es Apfelsorten, die zwei Wochen lang auf dem Höhepunkt ihre Geschmacks seien. Danach "fasse ich die Dinger nicht mehr an".

Mindestens genauso wichtig wie der Apfel ist ihm die Birne. Weil da so viel verloren gegangen ist. "Birnen müssen nachgelagert werden, erst dann erreichen sie ihr vollschmelzendes Aroma." Manche Birnen seien gar Trinkbirnen genannt worden, weil Saft und Aroma im Munde zerflössen. Kein Supermarkt könne das liefern. Bade schaut wieder ernst. Sehr ernst.

Einmal pro Woche ergreift Christine Rüther die Flucht. "Dann muss ich raus aus der Kommune, sonst bekomme ich einen Koller. Ich nehme die Bahn nach Kassel und gehe ins Kino oder so." Gerade aber fühlt sich Rüther sichtbar wohl, entspannt steht sie zwischen Asia- und Feldsalat, Postelein und Pak-Choi.

Die Pflanzen gedeihen auf den Gemüsefeldern der Gemeinschaft, dem Bio-Anbaubetrieb "Rote Rübe". Mit eigenem Gemüse versorgt sich die Kommune bereits seit ihrer Gründung. Rüther und vier Mitstreiter pflegen und ernten immerhin 60 unterschiedliche Kulturen - Wurzelgemüse, Kohl in allen Varianten und Kräuter. Versorgen können sie damit über das ganze Jahr hinweg bis zu 120 Menschen.

Den Großteil des Gemüses verbraucht die Kommune selbst, den Rest verkauft sie direkt im Hofladen und vor allem nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft. Das bedeutet: Die Kommunarden verkaufen das Gemüse an eine vorher fest kalkulierte Anzahl von Personen gegen einen Monatsbeitrag von derzeit etwa 56 Euro.

"In den USA und Japan ist so etwas schon seit Jahrzehnten üblich", sagt Rüther. In Deutschland hingegen habe es 25 Jahre lang gerade ein, zwei Höfe gegeben, die auf diese Weise wirtschafteten. Erst in den vergangenen vier Jahren sei die Zahl rasant auf etwa 50 gestiegen.

Warum funktioniert das Modell für die Kommune? "Wir haben entschieden, dass wir uns nicht den gängigen Marktmechanismen unterwerfen wollen, sondern dass wir fair bezahlt werden und faire Arbeitsbedingungen haben wollen. Das hat erst die solidarische Landwirtschaft ermöglicht."

Eigentlich könnte die Gemeinschaft viel günstiger das Essen im Bio-Großhandel einkaufen. Doch die Kommunarden wollen den Großteil der Lebensmittel lieber selbst herstellen und verzichten dafür an anderer Stelle: "Wir kaufen uns selten neue Klamotten, wir kommen alle zusammen mit drei Waschmaschinen aus und teilen uns sieben Autos."

Ist das also ein Paradies dort in den Fachwerkhäusern? Nein, natürlich nicht. Wohin es in der Zukunft gehen soll - das wissen auch die Kommunarden nicht. "Die einen wollen wachsen und sogar noch weitere Gebäude zukaufen. Den anderen ist es jetzt schon zu groß", sagt Rüther. Einigen können sich die Kommunarden da schon seit Jahren nicht. Gemeinsam leben - das bedeutet eben auch gemeinsam streiten.

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