Der 27. Juni 1965 war ein sonniger Sommersonntag. Die Saarländer gingen zur Wahl und bescherten Union und SPD satte Zugewinne. Und die Rheinländer staunten über den technischen Fortschritt. In Niederaußem, am Rande des Tagebaus Hambach, ging Block C in Betrieb, ein moderner Dampfkessel. Heute ist er fast 54 Jahre alt, hoffnungslos überaltert - und läuft immer noch.
Seit diesem Wochenende sind seine Tage gezählt. Nach mehr als 20 Stunden Verhandlungen hatte sich die Kohlekommission in der Nacht zu Samstag auf den Fahrplan für den fossilen Ausstieg geeinigt. Bis 2038, womöglich schon bis 2035, soll die Kohlekraft in Deutschland Geschichte werden. Im Jahr 2030 soll die Leistung der Braunkohle-Kraftwerke von derzeit 18,7 auf neun Gigawatt sinken, die der Steinkohle-Kraftwerke von 21 auf acht Gigawatt. Während die Steinkohlekraftwerke über das Land verstreut sind, findet sich Braunkohle nur in drei Regionen im Land: im Rheinland, in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier.
Kohleausstieg:"Wir haben etliche Jahre durch Untätigkeit verloren"
Barbara Praetorius war in der vierköpfigen Spitze der Kohlekommission die einzige Wissenschaftlerin und Klimaschützerin. Sie staunt noch immer, dass der Kompromiss geglückt ist.
Den Anfang macht das Rheinland - und das wahrscheinlich auch zugunsten des Hambacher Forsts. Denn nach Willen der Kommission soll die Bundesregierung "die bestehenden strukturellen Unterschiede der unterschiedlichen Bergbauregionen" berücksichtigen. Das wirtschaftlich stärkere Rheinland verkraftet so einen Ausstieg leichter.
In den kommenden drei Jahren soll der Bund Braunkohleblöcke mit einer Leistung von 3,1 Gigawatt stilllegen. Die Namen Niederaußem und Neurath stehen nirgends in dem Bericht. Doch dort finden sich die ältesten Blöcke, und zufälligerweise addieren sie sich auf knapp 3,1 Gigawatt. Neben Block C sind das noch drei weitere Blöcke in Niederaußem. Im Kraftwerk Neurath, das seine Kohle aus dem Tagebau Garzweiler bezieht, sind die Blöcke A, B und D schon jenseits der 45 Jahre alt. Die beiden Kraftwerke, die jeweils auch über jüngere Blöcke verfügen, sind die klimaschädlichsten Deutschlands: Mehr als sechs Prozent aller CO₂-Emissionen gehen auf ihr Konto. Nun soll hier der Kohleausstieg beginnen.
Die Börse setzt auf Entschädigungen: Die RWE-Aktie im Plus
Aushandeln muss das der Bund mit den Unternehmen, im Rheinland also mit dem Essener RWE-Konzern. Dessen Chef Rolf Martin Schmitz hatte zuletzt ohnehin "die neue RWE" ausgerufen, die sich stärker auf erneuerbare Energien konzentrieren soll. Und gegenüber der Rheinischen Post angekündigt: "Ich rechne mit einem signifikanten Abbau bereits bis 2023, der weit über die bisherigen Planungen und das durch normale Fluktuation mögliche hinaus geht. Dies betrifft unmittelbar bis Ende 2022 die Mitarbeiter der zu schließenden Kraftwerke." Obendrein soll der Bund nach dem Willen der Kommission "eine einvernehmliche Vereinbarung auf vertraglicher Grundlage" anstreben. Es müssten nun mit der Politik Lösungen gefunden werden, "bei denen weder den Beschäftigten noch dem Unternehmen Nachteile entstehen", sagt Schmitz. Die Börse setzt jetzt schon auf gute Entschädigungen: Die RWE-Aktie legte seit Mitte voriger Woche um neun Prozent zu - da war der erste Entwurf der Einigung durchgesickert.
Der Einstieg im Rheinland hat einige Symbolkraft. Werden in Niederaußem Blöcke stillgelegt, kann auch der Tagebau Hambach schrumpfen. Dort war zuletzt der Hambacher Wald umkämpftes Symbol für den Raubbau geworden. "Die Kommission hält es für wünschenswert, dass der Hambacher Forst erhalten bleibt", heißt es nun im Beschluss der Kommission.
Auch bleiben so die Reviere in Ostdeutschland zunächst verschont. Dort war der Widerstand besonders groß: Als Wirtschaftsfaktor ist die Braunkohle hier wichtiger, obendrein stehen im September in Brandenburg und Sachsen Landtagswahlen an. "Wir haben erreicht, dass die Menschen in den Regionen die Chance bekommen, eine eigene Strukturentwicklung auf den Weg zu bringen", sagt Stanislaw Tillich (CDU), einstiger Ministerpräsident Sachsens und einer der vier Vorsitzenden der Kommission. "Wenn dieser Prozess gelingt, wird er andere Regionen in Europa zur Nachahmung anstiften." Ein Anhang listet mehr als 600 Projekte auf, die den Strukturwandel abfedern sollen. Jährlich 1,3 Milliarden Euro sollen dafür bereitstehen, zudem 700 Millionen Euro, die sich flexibel einsetzen lassen - etwa zur Erprobung neuer Technologien.
Erst 2025 könnte auch der Osten beim Ausstieg an die Reihe kommen, etwa mit angejahrten Blöcken der Kraftwerke Jänschwalde oder Boxberg. Ob es so kommt, hängt aber vom Gelingen eines "Innovationsprojekts" ab. Erst in letzter Minute hatte es auf Betreiben Tillichs Eingang in den Bericht gefunden; im Kern geht es darum, Kohlendioxid zu binden. Gelingt das nicht, müssen weitere Blöcke stillgelegt werden. Ziel der Kommission ist eine "möglichst stetige" Senkung der Treibhausgasemissionen. Auf konkrete Zwischenziele für einzelne Jahre konnte sie sich aber nicht verständigen.
"Besser schlechten Klimaschutz als gar keinen Klimaschutz"
Ohnehin war ein Erfolg der Kommission nicht ausgemacht, noch in der Nacht standen die Zeichen mehrmals auf Abbruch und Vertagung der Gespräche. "Dass es zu einer Einigung gekommen ist, ist eigentlich ein Wunder", sagt Kai Niebert, der für den Deutschen Naturschutzring (DNR) in der Kommission war. Schon die Zusammensetzung der 28-köpfigen Kommission war eine Herausforderung: Neben Umweltgruppen und Tagebau-Betroffenen saßen auch Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und mittelbar die Landesregierungen am Tisch. Immer wieder funkte die Bundesregierung rein. "Nicht immer war das hilfreich", sagt Niebert. Am Ende stimmte nur die Vertreterin der Lausitzer Bürgerinitiativen gegen den Beschluss: Ihnen kommt der Ausstieg in der Lausitz zu spät.
Jetzt sieht die Kommission die Bundesregierung am Zug. "Eines der zentralen Instrumente zur Erreichung der Klimaziele ist der Ausbau der erneuerbaren Energien", heißt es im Bericht. Konsequenter als bisher müsse sich der Bund dafür einsetzen. Auch den Bau flexibler Gaskraftwerke soll er forcieren. Sie können einspringen, wenn der Strom aus Wind und Sonne schwächelt. Das System der Steuern und Abgaben soll der Bund überarbeiten, um Strom günstiger zu machen; die Industrie soll er zusätzlich entlasten. Auch einen Preis auf CO₂ bei Wärme- und Kraftstoffen soll er überprüfen - die Liste ist lang.
In vielen Punkten hätte er sich noch ehrgeizigere Ziele vorstellen können, sagt Niebert. "Jetzt gilt: Besser schlechten Klimaschutz als gar keinen Klimaschutz."