Italien:Rom streitet, wie das Land auf die Beine kommen kann

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Die Via Condotti in Rom. (Foto: Alessia Pierdomenico/Bloomberg)

Die Jugend ist demoralisiert, die Mittelschicht verstört, der Süden entvölkert: Italiens Regierung ringt um Antworten auf wichtige Fragen.

Von Ulrike Sauer, Rom

Manchmal reicht ein Tag, um sich ein Bild von der vertrackten Lage Italiens zu machen. Zum Beispiel der vergangene Freitag. Parteienvertreter hockten beim Koalitionsgipfel zusammen, ihrem 24. in nur drei Regierungsmonaten. Von morgens um acht bis zum späten Abend ringt Premier Giuseppe Conte mit einem Dutzend Kabinettsmitgliedern um Details des Haushaltsentwurfs. Es geht um 340 Millionen Euro Einnahmen aus der Einführung einer umstrittenen Plastik- und Zuckersteuer. 340 Millionen Euro von 29 Milliarden Euro Budgetkorrekturen im Etat 2020, der bis Silvester noch von beiden Parlamentskammern diskutiert und gebilligt werden muss. Ein Kompromiss sichert am Ende den Fortbestand der Koalition. Zumindest bis zur Verabschiedung des Haushalts. Weiter reicht der Horizont in Rom nicht.

Derweil macht Oppositionsführer Matteo Salvini den ganzen Tag mit seiner Zuerst-die-Italiener-Demagogie von sich reden. Auf Wahlkampftour kündigte der Lega-Chef an, kein Nutella mehr zu essen. Ihm schmeckt nicht, dass der Hersteller Ferrero aus dem norditalienischen Alba türkische Haselnüsse in die Nougatcreme rührt. "Ich ziehe es vor, italienisch zu essen und die italienischen Bauern zu unterstützen", sagt Salvini und stellt seine Ahnungslosigkeit zur Schau. Ferrero verarbeitete 2018 220 000 Tonnen Haselnüsse zu Nutella und füllte damit 450 Millionen Gläser. Italiens Bauern aber ernteten nur 125 000 Tonnen. Was also will Salvini? Soll der Süßwarenkonzern die Produktion drosseln und Mitarbeiter entlassen? Peinlicher noch als die Autarkie-Kampagne war für den Rechtsnationalisten, dass sich sein Angriff gegen Nutella als höchst unpopulär entpuppte. Die Italiener lassen sich ihren berühmten Brotaufstrich nicht schlechtreden. Am Abend ruderte Salvini zurück.

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Dass die Menschen im dauerkriselnden Italien ganz andere Sorgen haben, daran erinnerte die zankenden Koalitionäre und den früheren Innenminister Salvini am Freitag das römische Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitut Censis. In seinem Jahresbericht 2019 beschrieb es das Land als "ängstliche Massengesellschaft, die vom Misstrauen zermürbt" und über "das Verschwinden der Zukunft erschreckt" sei. 69 Prozent der Italiener sehen das Land in einem Angstzustand gefangen. Der Wahltriumph der Populisten hätte 2018 zum Jahr des Wandels machen sollen, es wurde nach 13 Quartalen Wachstum zum Jahr des Abschwungs. Die politische Wende zahlt sich auch in diesem Jahr nicht aus. Die italienische Wirtschaftsleistung nimmt um 0,2 Prozent zu, so wenig wie in keinem der anderen 27 EU-Staaten. Die Jugend sei vom Gefühl der Bedeutungslosigkeit ergriffen, die Mittelschicht verstört, der Süden von der Emigration demoralisiert, schreiben die Censis-Forscher. 48 Prozent der Italiener sehnen sich nach dem starken Mann, der die Probleme löst, ohne sich um das Parlament kümmern zu müssen.

Anfang September war die Koalition zwischen der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und dem sozialdemokratischen Juniorpartner PD angetreten, um Rechtsaußen Salvini den Weg an die Macht zu verschließen und Italien auf Europa-Kurs zu halten. Am kommenden Freitag hält die Zwangsehe 100 Tage, doch es ist so, als wäre sie nie wirklich geschlossen worden. Das zeigte sich in der Haushaltspolitik, die für Finanzminister Roberto Gualtieri zum Seiltanz wurde. Noch krasser zeigt es sich in der Schlacht um die Reform des europäischen Rettungsschirms, in deren Bann Rom seit einem Monat steht. Eigentlich sollte eine pro-europäische Wende der wichtigste Auftrag der neuen Regierung sein. Erfüllt wurde er nicht.

Wieder ist Europa in Rom zum Zankapfel geworden

Dafür sorgte ausgerechnet Salvini. Der Euro-Gegner prangerte die Änderungen am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der Euroländern bei einer drohenden Staatspleite mit Notkrediten aushilft, als Verrat an den Italienern und als Gefahr für ihre Ersparnisse an. Luigi Di Maio, amtierender Außenminister und Fünf-Sterne-Chef, tappte in die Falle und machte sich im Kabinett zum Sprachrohr der Lega-Propaganda. Die absurde Folge: Wieder ist Europa in Rom zum Zankapfel geworden. Denn nach wie vor dominieren die Emotionen in Italien die Politik. Und die Wirklichkeit wird ausgeblendet.

Finanzminister Gualtieri bemüht sich unablässig, den Regierungspartner Cinque Stelle zur Räson zu bringen. Salvini führe eine "terroristische Kampagne" gegen den Rettungsschirm, sagt der PD-Politiker. "Wer sich nicht kompetent über Nutella äußern kann, ist in seinen Angriffen auf den ESM kaum glaubwürdig", spottet er. Der Lega-Chef hatte sich gerade vor einer laufenden Kamera blamiert, als er auf die Frage nach den Klauseln der Reform des Rettungsschirms zu stammeln begann: "Klauseln, die ... Klauseln, die einige der Probleme aufwerfen ...", stotterte Salvini und floh.

Abgesehen von den Populisten haben sich in Italien keine Kritiker der geplanten Reform zu Wort gemeldet. Zentralbankchef Ignazio Visco bezeichnete die Änderungen als Schritt in die richtige Richtung. Was von Salvini und Di Maio als Gefahr bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit "eine Klausel zum Schutz des ESM, dessen drittgrößter Beitragszahler Italien ist", sagte Visco in einer Parlamentsanhörung. Die Italiener hätten also Interesse daran, dass die Notkredite zurückgezahlt werden. Gefahr gehe für das Land nicht vom ESM aus, sondern von seinen Schulden.

Das ist der springende Punkt. In Brüssel und bei den Käufern römischer Staatsanleihen scheint der absurde Streit neue Zweifel am politischen Willen Italiens zum Schuldenabbau genährt zu haben. Hinter der Kampagne gegen die Reform wähnt man in Rom einen handfesten Grund: Ein gestärkter Rettungsschirm macht es Salvini in Zukunft sehr viel schwerer, Italien aus dem Euro zu drängen.

Auch am Dienstag offenbarte sich so die schizophrene Situation Italiens. Die Koalition stritt um eine gemeinsame Resolution zur ESM-Reform, für die Premier Giuseppe Conte am Mittwoch, kurz vor seiner Abreise zum EU-Gipfel, eine Mehrheit im Parlament hinter sich scharen muss. Wenige Schritte vom Regierungssitz entfernt, demonstrierten von der Schließung ihrer Unternehmen bedrohte Arbeiter gegen die Untätigkeit der Politik. "Schluss mit den Parolen, wir wollen Taten", rief Gewerkschaftschef Maurizio Landini.

© SZ vom 11.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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