Gesichtserkennung:Ich kann dich sehen

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Fluch, Segen - oder beides zugleich? Die Technik zur Gesichtserkennung schreitet voran und mit ihr die Sorgen um die Privatsphäre. (Foto: David McNewAFP)

Eine App kann mit nur einem Foto einen Menschen durchleuchten: Facebook, Twitter, Instagram - alle Bilder im Netz werden sofort gefunden. US-Ermittler nutzen die Software bereits bei der Strafverfolgung.

Von Jannis Brühl und Simon Hurtz, München

2011 nahm die Journalistin Kashmir Hill an einem Workshop der US-Handelskommission FTC teil. Es ging um die Frage, wie Technologie zur Gesichtserkennung reguliert werden soll. Alle waren sich einig, dass kein Unternehmen eine Anwendung entwickeln dürfe, die es ermögliche, jederzeit jede beliebige Person zu identifizieren. "Eine App, die in Echtzeit anonyme Individuen auf der Straße erkennt, könnte ernsthafte Gefahren für Privatsphäre und Sicherheit bedeuten", heißt es im Abschlussbericht. Neun Jahre später könnte Hill genau das aufgedeckt haben, wovor die FTC damals warnte.

"Das geheime Unternehmen, das die Privatsphäre, wie wir sie kennen, beenden könnte" überschreibt die New York Times (NYT) die Recherche der Reporterin. Das Unternehmen heißt Clearview, und es soll eine gigantische Datenbank mit mehr als drei Milliarden Fotos von menschlichen Gesichtern aufgebaut haben. Die Dimension geht weit über alle bekannten Systeme hinaus. Angeblich lassen sich mit Hilfe von Clearview Millionen Menschen innerhalb weniger Sekunden erkennen.

Um seine Datenbank zu speisen, hat Clearview einen gewaltigen Datenstaubsauger entwickelt. Er durchsucht öffentlich zugängliche Seiten im Netz, darunter Netzwerke wie Facebook, Youtube, Twitter und Instagram. Eine Software lädt automatisch massenhaft Fotos herunter und analysiert sie. Wenn das System Übereinstimmungen findet, liefert es weitere Fotos und persönliche Daten.

Angeblich bezahlen mehr als 600 Behörden für das Angebot, darunter das FBI, das US-amerikanische Ministerium für Innere Sicherheit, Dutzende Polizeidienststellen und kanadische Ermittler, die damit Sexualverbrechen und Kindesmissbrauch aufklären. Eine vollständige Liste seiner Kunden rückt Clearview bislang nicht heraus. Dem Bericht zufolge arbeitet die Firma aber auch mit privaten Unternehmen zusammen.

Clearview war bislang praktisch unbekannt. Das Unternehmen gibt sich Mühe, im Hintergrund zu bleiben: Auf der Webseite und in Geschäftsunterlagen fanden sich falsche Adressen - angeblich ein Tippfehler, wie Clearview erklärt. Das einzige Linkedin-Profil, das einen Verweis auf Clearview enthält, gehört einem gewissen "John Good". Tatsächlich steckt dahinter Firmengründer Hoan Ton-That, der einen falschen Namen nutzte. Als Journalistin Hill dem Unternehmen nachspürte, erhielt sie monatelang keine Antwort. Schließlich meldete sich eine Expertin für Krisenkommunikation, die ein Treffen mit Ton-That arrangierte.

All das wirkt äußert dubios: So gehen meist obskure Start-ups vor, die vollmundige Versprechungen machen, Millionen von Investoren einsammeln und dann nicht liefern. Im Fall von Clearview scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Mehrere Ermittler sagten der NYT, sie wüssten selbst nicht genau, wie Clearview arbeite - die Resultate seien aber überzeugend. Innerhalb kurzer Zeit hätten sie Verdächtige identifiziert und Verbrechen aufgeklärt, darunter Diebstahl, Mord und Kindesmissbrauch.

Das Vorgehen von Clearview ist allerdings fragwürdig. Erstens verstößt die massenhafte Datensammlung gegen die Nutzungsbedingungen von Plattformen wie Facebook. "Viele Menschen machen das", sagte Ton-That der New York Times. "Facebook weiß es." Zweitens ist völlig unklar, wie sicher die Datenbank ist. Behörden speichern sensible Informationen auf den Servern eines kleinen Unternehmens, über das sie kaum etwas wissen und das keiner externen Kontrolle unterliegt. Drittens birgt das System großes Missbrauchspotenzial. Ein Polizist, der Zugriff auf die Software besitzt, könnte damit Frauen stalken, die er auf der Straße getroffen hat. Autoritäre Regime könnten Teilnehmer an Demos identifizieren, wie es Russland bereits mit vergleichbarer Technologie vormacht.

Den vierten Grund hat Hill selbst erlebt: Offenbar überwacht Clearview, nach welchen Personen die Behörden suchen. Als die Reporterin Polizisten bat, ein Foto von ihr analysieren zu lassen, habe das System keinen Treffer angezeigt, obwohl es viele Bilder von Hill im Netz gibt. Kurz darauf habe Clearview die Ermittler angerufen und sich erkundigt, ob sie mit der Presse sprächen. Ton-That spielt den Vorfall herunter. Die Software habe nur wegen ungewöhnlicher Suchanfragen Alarm geschlagen. Ton-That bestätigte indes, dass ClearView einen Prototypen für eine Computerbrille entwickelt habe. Mit Hilfe von Augmented-Reality-Technologie könnte der Träger damit beliebige Menschen auf der Straße identifizieren, falls ihre Gesichter in der Datenbank enthalten sind. Dem Clearview-Gründer zufolge habe sein Unternehmen keine Pläne, die Brille tatsächlich auf den Markt zu bringen.

© SZ vom 21.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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