Konsumverhalten:Deutschland droht ein Trinkgeld-Teufelskreis

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Für viele Servicekräfte ist das Trinkgeld ein wichtiger Baustein ihres Gehalts. (Foto: Daniel Gonzalez/imago)

Zehn Prozent Trinkgeld? In Zeiten steigender Inflation ist das für viele Menschen plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Dabei sind viele Mitarbeiter auf das Geld angewiesen.

Von Helena Ott

Eine solche Sparsamkeit hat Raffaella De Lio noch nicht erlebt. Die 65-Jährige ist in der Gastronomie aufgewachsen und hat schon mehrere Restaurants in München geleitet. Seit 2019 betreibt die gebürtige Italienerin das "Da Raffaella" im Münchner Arbeiterviertel Giesing. "Früher waren die Leute hier sehr großzügig, aber seit der Inflation sind sie ganz genau mit ihrem Geld", sagt De Lio. Hätten ihre Service-Mitarbeiter vor der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine häufig an einem Abend 100 bis 150 Euro Trinkgeld eingesammelt, seien es heute nur noch knapp zehn bis 15 Euro. Obwohl nicht weniger Gäste zu ihr kämen, sagt De Lio.

Raffaella De Lio braucht dringend Unterstützung, gerade bedient und kocht sie selbst im eigenen Lokal. (Foto: privat)

Im Restaurant, beim Friseur, auf Toiletten, im Hotel oder im Taxi Trinkgeld zu geben, das ist für viele Menschen selbstverständlich: "Danke, stimmt so." Doch die Sorge um die Preissteigerungen scheinen dieses gut eingeübte Ritual gerade zu kippen. Galten die Deutschen im internationalen Vergleich schon zuvor eher als knauserig, drehen sie seit den gestiegenen Kosten für Strom, Lebensmittel und Benzin den Geldhahn noch fester zu - auch beim Trinkgeld.

Es gibt zwei Trinkgeld-Lager

Egal wen man in der Gastronomie fragt, die meisten halten zehn Prozent für angemessen. "Wenn ich essen gehe, geb' ich immer zehn Prozent und mehr", sagt Raffaella De Lio, "du weißt ja selbst, was für eine harte Arbeit das ist." Dabei ist Trinkgeld geben, so zeigte sich zu Beginn dieser Woche, längst keine soziale Norm, an die sich alle gebunden fühlen. Die ARD-Journalistin Anja Reschke stieß auf Twitter eine Debatte darüber an, was mit den Deutschen los sei, eine Bekannte von ihr bekäme neuerdings in einem Hamburger Restaurant häufig nur noch Centbeträge als Trinkgeld.

In der Kommentarspalte bildeten sich sofort zwei Lager: Diejenigen, die sich über die knauserigen und egoistischen Artgenossen echauffierten. Und die anderen, die es als Zumutung empfinden, dass sie zusätzlich zum Rechnungsbetrag mit einer "privaten Spende" die prekären Löhne von Gastronomie-Mitarbeitern aufstocken sollen.

Tatsächlich sind heute viele Barkeeper, Kellnerinnen, Köche und Barista auf das finanzielle Zubrot angewiesen. "Die Bedienungen sind hier früher oft mit mehr Trinkgeld als dem Stundenlohn nach Hause", erzählt Raffaella De Lio von vor der Pandemie. Jetzt könnten sich viele Servicekräfte eine teure Stadt wie München kaum noch leisten. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass der monatliche Verdienst in der Gastronomie 2021 im Durchschnitt bei 2156 Euro brutto lag. Und damit nur ein Drittel der Gehälter in den Branchen mit den höchsten Verdiensten, etwa der Öl- und Gasindustrie, betrug. Für Alleinstehende bleiben da knapp 1500 Euro übrig - gerade so viel, wie in vielen Ballungsräumen derzeit oft eine Single-Wohnung kostet.

Er überlegt, seinen Mitarbeitern weniger Gewinnbeteiligung zu zahlen

Ahmet Özkan steht seit acht Jahren im "Gorilla" hinter dem Tresen, einer beliebten Stadtviertelbar in München. Seiner Frau gehört der Laden. Ihr Personal bekommt an jedem Abend zehn Prozent des Umsatzes auf den Lohn obendrauf. "Ich finde, das ist am fairsten, so bekommen auch die Leute hinter der Bar etwas, nicht nur die, die kassieren", sagt Özkan. Doch erstmals, seit sie aufgemacht haben, geht dieses Konzept nicht mehr auf. Der 48-Jährige überlegt, ob er den Zuschuss auf acht Prozent kürzt. Warum? Es kommt nicht mehr genügend Trinkgeld zusammen. "Das sind jetzt jeden Abend an die 30,40 Euro, die ich draufzahlen muss." Das höre sich erst mal nach wenig an, aber im Monat seien das fast tausend Euro, sagt der Barkeeper.

Barkeeper Ahmet Özkan in der Gorilla-Bar im Münchner Stadtviertel Neuhausen. (Foto: Max Josef Gillmeier)

73 Prozent der Deutschen sparen bereits beim Einkaufen

Als Gründe für die Sparsamkeit sehen beide Gastronomen zuvorderst die Preissteigerungen durch die Inflation. Eine repräsentative Studie der Unternehmensberatung McKinsey von Mitte Juli zeigt, dass inzwischen 73 Prozent der Deutschen ihr Einkaufsverhalten verändert haben, um zu sparen. Gerade Geringverdiener merken die höheren Kosten in ihrem monatlichen Budget bereits deutlich. Aber zudem sorgt die schwelende Unsicherheit, wie sich die wirtschaftliche Situation aufgrund des Krieges weiter entwickelt, bei der Mehrheit für gedämpften Konsum.

Ein Trend, der durch die Pandemie verstärkt wurde: Immer öfter zahlen Gäste mit Karte - und geben dann meist weniger Trinkgeld. (Foto: Imago/Westend61)

Und dann ist da noch das Kartenlesegerät. Ein natürlicher Feind der Mitarbeiter, wie diejenigen wissen, die schon einmal gekellnert haben. Während der Ausgangsbeschränkungen wurden die Gäste nahezu dazu erzogen, häufiger mit Karte zu zahlen, statt Kleingeld hin und her zu reichen. Aber Gäste geben, das zeigt etwa eine wissenschaftliche Befragung aus einer Dissertation von 2009, die laut De Lio und Özkan immer noch aktuell ist, im Schnitt um die drei Prozent weniger Trinkgeld, wenn sie mit Karte zahlen. Zudem sind die Servicekräfte dann auf einen ehrlichen Chef angewiesen. Branchenkenner geben deshalb den Hinweis, Trinkgeld lieber separat zur Rechnung in bar zu überreichen.

Es könnte sich ein Teufelskreis entwickeln

Spannend sind aber auch die Motive: Die Befragung aus 2009 zeigt auch, dass sich die Höhe des Trinkgelds nicht nur an der Zufriedenheit des Gastes bemisst, sondern auch viel über dessen charakterliche Merkmale aussagt. Der Gast möchte gerne als großzügig wahrgenommen werden, schreibt der Studienautor. Und die Höhe der Zuwendung steigere sich, wenn andere Gäste mit am Tisch sitzen oder er in Begleitung gekommen ist. Dennoch gibt es auch die Erwartung, freundlich und aufmerksam bedient zu werden. Knapp 94 Prozent der Befragten geben an, dass sie bei unfreundlichem Personal kein Trinkgeld geben.

Für einen guten Service braucht es genügend Personal. Aber derzeit fehlt es landesweit an Köchinnen, Köchen, Kellnern und Bedienungen. Raffaella De Lio wartet sehnlich auf ihre neue Servicekraft, die aber erst im September anfängt. Bis dahin flitzt sie zwischen ihrer Terrasse, dem Tresen und der Küche wild hin und her. "Gerade muss ich alles selbst machen, ich habe nur eine Küchenhilfe", sagt sie. Abends schmerzten ihre Füße und das Kreuz, "aber vor allem der Kopf, abends weißt du nicht mehr, wie du heißt", so die 65-Jährige.

Damit steht die Gastronomie womöglich vor dem nächsten Teufelskreis. Durch den Personalmangel werden die Gäste unzufriedener und geben weiter weniger Trinkgeld. Dadurch wird es noch unattraktiver für ehemalige Servicekräfte, die zwischenzeitlich in andere Branchen abgewandert sind, zurückzukehren. Die Wirtin eines Wirtshauses im bürgerlich hippen Münchner Glockenbachviertel, Karin Nessenius, hat deshalb vor einer Woche ihre Öffnungszeiten verkürzt. "Anders geht es nicht, du kannst ja nicht die Leute so verbrennen", sagt die erfahrene Gastronomin.

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