Als im Mai vergangenen Jahres das Hilfsprogramm der Euro-Staaten für Portugal auslief, da gönnte man sich im Berliner Kanzleramt einen kurzen Moment der Genugtuung: Wieder ein Land, dass es mit Angela Merkels Rezept der Solidarität gegen Solidität aus der Krise geschafft hatte. Seit Dienstagabend nun steht auch Griechenland ohne Kreditvertrag da, doch Schulterklopfer sucht man diesmal vergebens. Kein Wunder: Der 30. Juni 2015 ist ohne Zweifel der bisherige finanzpolitische Tiefpunkt in Merkels fast zehnjährigen Kanzlerschaft.
Das ist umso tragischer, als ihr Krisenbekämpfungskonzept nie aus der simplen Sparen-um-des-Sparens-willen-Doktrin bestand, die Kritiker links der politischen Mitte stets beklagten. Merkels Philosophie zielte vielmehr darauf ab, durch einen Mix aus Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen die Ursachen der Misere zu beseitigen und den Krisenländern so die Rückkehr in eine selbstbestimmte Existenz zu ermöglichen. Dieser Gedanke war, ist und bleibt richtig, und er führte andernorts zum Erfolg. Daran ändern auch Nebenwirkungen wie vorübergehende Rezessionen und weitere Anstiege der ohnehin absurd hohen Jugendarbeitslosenzahlen nichts. Hier muss nun die nächste Reformstufe ansetzen.
Krise in Griechenland:"Die Politik hat sich ins Gefängnis der Märkte begeben"
Hat die griechische Regierung den Bezug zur Realität verloren? Nein, erklärt Kulturwissenschaftler Joseph Vogl. Sie erinnere an Werte wie Gemeinwohl in einem totalitären System: dem Finanzkapitalismus.
Merkel versteht nicht, wie wichtig Gesten sind
Warum also nicht in Griechenland? Erstens: Das Tempo der Haushaltskonsolidierung war in diesem Fall zu hoch, zudem sparten alle griechischen Regierungen mit Ausnahme der amtierenden allein bei den einfachen Bürgern und damit am falschen Ende. Zweitens: Der öffentliche Dienst ist nach wie vor völlig überdimensioniert, die Bürokratie erschlägt jeden Gründergeist. Und schließlich: Dem Land fehlen unverändert wesentliche Eckpfeiler, die ein funktionierendes Staatswesen erst ausmachen und ohne die nachhaltiges Wachstum unmöglich ist - eine taugliche Steuerverwaltung etwa oder ein Katasterwesen. Dagegen hilft auch kein Marshall-Plan. Im Grunde ist Griechenland kein Fall für den Internationalen Währungsfonds, sondern für die Weltbank.
Angela Merkel kannte alle diese spezifischen Probleme, sie hat im kleinen Kreis immer wieder erläutert, warum die Situation in Griechenland einzigartig und mit der etwa in Portugal oder Spanien nicht zu vergleichen sei. Es folgte nur nie etwas daraus, sie vermochte es einfach nicht, ihre richtige Philosophie im Lichte dieser Einzigartigkeit zu justieren. Zwar kam sie den Griechen in technischen Detailfragen weit entgegen. Zu einem echten Staatsaufbauprogramm aber fehlte ihr ebenso der Mut wie zu einer großen Schuldenkonferenz.
Und so wie ihr daheim jeder Sinn für Symbolik abgeht, mangelte es ihr auch gegenüber den Griechen an Verständnis für die Bedeutung von Gesten, Großzügigkeit und gelebter Anteilnahme. Irgendwann im Laufe der Jahre sagte sie erstmals, dass sie um die Opfer der griechischen Bürger wisse und davor Respekt habe. Und dennoch blieb ihre Empathie stets eine theoretische.
Doch so berechtigt es ist, mit dem Finger auf Merkel sowie die Herren Papandreou, Samaras und Tsipras zu zeigen: Neben den Politikern tragen auch die Bürger Verantwortung, hüben wie drüben.
Statt Reformen zu fordern, schweigt die Kanzlerin
In Griechenland haben vier Jahrzehnte Klientelismus und Vetternwirtschaft dazu geführt, dass heute viele Menschen im Staat ein Gebilde sehen, das entweder der persönlichen Vorteilsmehrung dient oder aber übers Ohr gehauen werden will. Wer einmal in einem griechischen Landgasthof versucht hat, eine Rechnung zu bekommen, kennt das Problem.
Umgekehrt haben sich auch die Deutschen eingerichtet: in ihren Vorurteilen und in einem tradierten Europa-Bild, das jede Finalitätsdebatte verweigert. Für viele Bürger endete das Projekt Währungsunion mit der Einführung des neuen Bargelds, dabei war das nicht der End-, sondern der Startpunkt. Wer Europa wirklich will, der muss sagen, dass das auf Dauer ohne ein Euro-Zonen-Parlament, einen Euro-Finanzminister, einen Finanzausgleich, eine gemeinsame Einlagen- und Arbeitslosenversicherung nicht geht.
Doch die Scheitert-der-Euro-dann-scheitert-Europa-Kanzlerin schweigt und verweist lieber auf jenes Konstrukt aus zwischenstaatlichen Verträgen, Abkommen und Pakten, das sie in der Krise geschaffen hat. Dabei hat diese Politik der Renationalisierung Europa mehr geschadet als genutzt - und das Erstarken radikaler Parteien in vielen Ländern befördert.
Die Kanzlerin muss nun darauf hoffen, dass die griechischen Bürger beim Referendum am Sonntag klüger entscheiden als ihre gewählten Politiker. Doch selbst wenn das geschieht: Eine Erfolgsgeschichte wird daraus nur noch, wenn Merkel endlich selbst jene Flexibilität und Hingabe an den Tag legt, die sie den Griechen seit fünf Jahren zu Recht abverlangt.