Euro-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:Resthoffnung auf Demokratie

Noch nie haben sich so viele Menschen einer Verfassungsklage angeschlossen, wie jener gegen ESM und Fiskalpakt. Man darf annehmen, dass viele der 37.000 Kläger weniger aus Kenntnis der Verträge und deren Wirkung gegen die politischen Entscheidungen sind, sondern weil sie ein starkes Gefühl haben, dass etwas falsch läuft. Das Bundesverfassungsgericht gilt ihnen als letzte Zuflucht.

Nico Fried

Der Richter John G. Roberts Jr. hat jüngst einen Satz gesagt, der viel selbstverständlicher klingt, als er ist. Roberts amtiert als oberster Richter, als Chief Justice, am Supreme Court der Vereinigten Staaten. Er ist - bei allen Unterschieden der Systeme - das amerikanische Pendant zum deutschen Verfassungsgerichtspräsidenten. Roberts gilt als Konservativer, hat aber im Juli zur allgemeinen Überraschung die entscheidende Stimme zugunsten der Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama abgegeben. Zur Begründung sagte Roberts damals: "Es ist nicht unsere Aufgabe, die Bürger vor den Konsequenzen ihrer politischen Entscheidung zu beschützen."

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Die Diskussion um die politische Rolle des Verfassungsgerichtes ist so alt wie das Gericht selbst. Es ist eine Debatte in Wellen, deren Amplituden auch davon abhängen, wie erfolgreich eine Regierung ihre Politik in Karlsruhe zu verteidigen vermag.

(Foto: dpa)

Es ist ein Satz, der nachschwingt, wenn man sich Gedanken über die Rolle des Verfassungsgerichts macht. Dazu besteht Anlass, weil in Karlsruhe am Mittwoch eine der wohl bedeutendsten Entscheidungen in der Geschichte des Gerichts verkündet wird - und das, obwohl es sich nur um eine Art Vorentscheidung im Eilverfahren handelt. Die Kläger argumentieren, dass der Fiskalpakt und der Europäische Rettungsschirm ESM gegen das Grundgesetz verstoßen, und verlangen, dass Bundespräsident Joachim Gauck die Gesetze nicht unterzeichnen soll.

Es gibt berechtigte Skepsis gegenüber der Verfassungsfestigkeit der Verträge. Aber es gibt auch Indizien dafür, dass sich viele Deutsche vom obersten Gericht das wünschen, was Richter Roberts ablehnt: die Korrektur einer Entscheidung, die sie politisch für falsch halten. Fest steht jedenfalls, dass es sich um ein erstes Urteil zu der am meisten unterstützten Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik handeln wird. 37.000 Bürger haben sich angeschlossen.

Der Satz des Chief Justice lässt sich durchaus auf deutsche Verhältnisse übertragen. Denn er schreibt allein der Regierung und dem Gesetzgeber - den vom Souverän direkt gewählten oder indirekt bestimmten Verfassungsorganen - das Recht zur politischen Entscheidung und die Verantwortung für ihre Folgen zu. Im Falle von Fiskalpakt und ESM haben die Repräsentanten des Souveräns sogar mit Zweidrittelmehrheit einen politischen Beschluss gebilligt.

Die Prüfung der Gerichte hingegen muss eine juristische sein, keine politische. Selbst wenn der zuständige Senat zum Beispiel das finanzielle Risiko, das Bundesregierung und Parlament den Bürgern zumuten, für völlig unvernünftig hielte, dürfte er die Verträge nur blockieren, wenn sie dem Grundgesetz widersprächen. So weit, so klar.

Wirklich? Die Diskussion um die politische Rolle des Verfassungsgerichtes ist so alt wie das Gericht selbst. Es ist eine Debatte in Wellen, deren Amplituden auch davon abhängen, wie erfolgreich eine Regierung ihre Politik in Karlsruhe zu verteidigen vermag. Weil die schwarz-gelbe Koalition (und die schwarz-rote Vorgängerregierung) in dieser Hinsicht eine mäßige Bilanz vorzuweisen haben, erlebt auch das Gericht einen Politisierungsschub.

Er entsteht durch Urteile, mit denen es die Spielräume der Politik definiert, bisweilen leider auch verunklart hat. Er entsteht umgekehrt durch das Verhalten der Politik gegenüber dem Gericht: Mit der nicht neuen Neigung, fast jedes Gesetz im politischen Konkurrenzkampf von Karlsruhe prüfen zu lassen, entwertet sich die Politik selbst und befördert das Gericht in eine Machtposition, die es nicht haben sollte und wohl auch gar nicht haben will.

Bürger vertrauen dem Gericht mehr als der Politik

Vor allem aber hängt die wachsende Politisierung an der Einstellung vieler Bürgerinnen und Bürger zu "ihrem" Gericht. Verfassungsbeschwerden hat es schon immer in rauen Mengen gegeben, obwohl die wenigsten erfolgreich waren. Wenn es aber noch nie eine einzelne Beschwerde gegeben hat, die so viel Unterstützung fand, dann muss man die Massenklage gegen Fiskalpakt und ESM eben auch als Misstrauensvotum gegen die Politik verstehen.

Man darf, ohne Diffamierungsabsicht gegenüber den Klägern, annehmen, dass viele von ihnen weniger aus Kenntnis der Verträge und deren Wirkung gegen Fiskalpakt und ESM sind, sondern weil sie ein starkes Gefühl haben, dass etwas falsch läuft. Und da erscheint das Verfassungsgericht als letzte Zuflucht.

Das Institut Allensbach hat vor Kurzem ermittelt, dass das Verfassungsgericht mit einem Vertrauenswert von 75 Prozent fast doppelt so hoch im Ansehen steht wie der Bundestag mit 39 Prozent. 68 Prozent der Befragten fanden es richtig, dass Karlsruhe über die Rettungsmaßnahmen für den Euro entscheidet, nur 17 Prozent waren dagegen.

Diese Zahlen bedeuten, dass die Bürger den Verfassungsorganen, deren Zusammensetzung sie bestimmt haben, um ein Vielfaches weniger vertrauen als dem Verfassungsgericht, auf dessen Besetzung sie keinen Einfluss haben. Das ist unter dem Gesichtspunkt des demokratischen Selbstbewusstseins ein bestürzender Befund.

Den Karlsruher Richtern erwächst daraus eine besondere Verantwortung. Sie müssen ihre Urteile nach dem Buchstaben des Grundgesetzes fällen. Aber sie können darauf achten, dass die Politik, die ohnehin in unvorteilhaftem Licht steht, nicht zusätzlich in den Schatten gedrängt wird. In dieser Hinsicht jedoch hat man in Karlsruhe gerade in jüngster Zeit nicht besonders sorgsam gearbeitet.

Mit dem Urteil zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren zum Beispiel hat das Gericht keine Klarheit, sondern mit der "Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes" nur einen diffusen Rechtsbegriff geschaffen, bei dessen Auslegung die Politik zwangsläufig neuem Unrecht hilflos entgegenstolpern muss. Dass die Richter einige Wochen zuvor das Wahlrecht kassierten, war eine im Ganzen nachvollziehbare Entscheidung.

Dass aber der gleiche Senat, der noch vor wenigen Jahren Überhangmandate für unbedenklich hielt, sie nun plötzlich begrenzt sehen will und dazu willkürlich eine Höchstzahl festlegte, war nicht nur ein unlogisches Verdikt, sondern auch ein unfreundlicher Akt gegenüber der Politik: Die nun fast unvermeidbare Vergrößerung des Bundestages und ihre Kosten werden die Bürger nämlich sicher nicht dem Gericht anlasten.

Das Verfassungsgericht ist die letzte Instanz, jedenfalls die letzte weltliche Instanz. Das Gericht selbst erhebt dabei gar nicht den Anspruch auf absolute Wahrheiten, wie schon das Institut der Minderheitenvoten zeigt. Dennoch ist das Gericht paradoxerweise für manche Bürger die demokratische Resthoffnung, obwohl es demokratischer Partizipation und Legitimation weitgehend entzogen ist - anders übrigens als in den USA, wo der Senat die Ernennungen des Präsidenten bestätigen muss. Als John G. Roberts 2005 nominiert war, sagte er in der Anhörung zu einem Senator: "Wir Richter sind uns alle der Tatsache bewusst, dass Millionen Bürger Sie gewählt haben - und uns kein Einziger."

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