Europäische Union:Wie die EU den Binnenmarkt neu erfinden will

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Die Europabrücke am Brenner, Symbol des freien Warenverkehrs in Europa: Der Binnenmarkt braucht nach 30 Jahren seines Bestehens ein Update. (Foto: Arnulf Hettrich/picture alliance / imageBROKER)

Der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta legt einen Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarkts vor. Dabei vermeidet er ein Thema, das nicht nur in Deutschland Abwehrreaktionen auslöst.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Es wirkt ganz so, als habe Enrico Letta in seinem Bericht bewusst vermieden, der EU neue gemeinsame Schulden zu empfehlen. Er plädiert zwar für mehr öffentliche Investitionen, aber das eben ohne die gängige Forderung nach Eurobonds. Der frühere italienische Ministerpräsident und heutige Direktor des Pariser Jacques-Delors-Instituts soll in dieser Woche vor den europäischen Staats- und Regierungschefs seinen Bericht zur Zukunft des Binnenmarkts vorstellen. Dazu hatten ihn der Europäische Rat und die Kommission beauftragt. Vorab kursierte in Brüssel eine Zusammenfassung als Essenz der mehr als 400 Termine, die Letta zuletzt quer durch Europa wahrgenommen hat.

Eine vom Krieg bedrohte EU, die erst langsam aus Krisen herauswächst, die mit der grünen und digitalen Transformation gewaltige Investitionen stemmen muss und deren Anteil an der Weltwirtschaft deutlich geschrumpft ist, müsse ihren Binnenmarkt neu erfinden, schreibt Letta. Dazu gehöre neben mehr Anreizen für private Investitionen auch ein neuer Rahmen für staatliche Subventionen. Der ist in Europa traditionell eng, damit nicht finanzstarke Länder wie Deutschland mit Staatsgeld das Ungleichgewicht zwischen den 27 Mitgliedstaaten vergrößern. Stattdessen arbeitet die EU darauf hin, dass sich die Staaten in ihrer Wirtschaftsleistung aufeinander zubewegen. Bis Ende 2025 sind die strengen Beihilferegeln noch ausgesetzt - eine Antwort auf die Corona-Pandemie, die infolge des russischen Angriffskrieges verlängert wurde.

Das aber führt womöglich doch zu Verzerrungen, weil sich wohlhabendere Länder mehr leisten können. Als Ausweg aus diesem Dilemma schlägt Letta vor, die Beihilferegeln auf nationaler Ebene wieder strenger durchzusetzen und zugleich die "finanzielle Unterstützung auf EU-Ebene" schrittweise auszuweiten. "Konkret könnten wir uns einen Beitragsmechanismus für staatliche Beihilfen vorstellen, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Teil ihrer nationalen Mittel für die Finanzierung europaweiter Initiativen und Investitionen bereitzustellen", schreibt Letta.

Viele EU-Staaten haben keinen Spielraum mehr für staatliche Investitionen

Zusätzlich fordert er mehr öffentliche Ausgaben auf EU-Ebene. Im globalen Wettbewerb müsse die EU eine Industriestrategie entwickeln, die als Antwort auf Maßnahmen anderer globaler Mächte funktioniere - etwa auf den Inflation Reduction Act der USA, mit dem die Regierung von US-Präsident Joe Biden Hunderte Milliarden Euro für die Dekarbonisierung der Industrie ausgibt. "Ohne angemessene Ressourcen besteht die Gefahr, dass der Fortschritt ausbleibt", schreibt Letta. "Die Kosten des Wandels sind systembedingt und müssen kollektiv getragen werden."

Enrico Letta fordert mehr öffentliche Ausgaben auf EU-Ebene. (Foto: Domenico Stinellis/AP)

An dieser Stelle kommt er dem nicht nur in Deutschland unbeliebten Thema Eurobonds am nächsten. Denn tatsächlich haben zahlreiche EU-Staaten keinen Spielraum mehr für neue staatliche Investitionen. Beispiel Frankreich: Das Land überraschte neulich mit einem voraussichtlichen Staatsdefizit von mehr als fünf Prozent jeweils in diesem und im kommenden Jahr und wird nach den EU-Schuldenregeln zum Sparen gezwungen sein. Die Stimmen derjenigen, die gemeinsame EU-Schulden wenigstens für Investitionen in Sicherheit und Verteidigung fordern, sind zuletzt lauter geworden. Bislang allerdings gilt der 800 Milliarden Euro schwere Corona-Wiederaufbaufonds als historische Ausnahme. Daraus wird kollektiv geliehenes Geld unter den Mitgliedstaaten verteilt.

In diplomatischen Kreisen in Brüssel ist man ob des Letta-Reports wenig überrascht. Es stünden "Evergreens" darin, heißt es: etwa die Erweiterung des Binnenmarkts um die ursprünglich ausgeklammerten Bereiche. Das sind vor allem die Telekommunikation, die Energie- und Finanzmärkte - Dinge, die in Brüssel schon lange diskutiert werden. Ob es einen Schub auslösen wird, wenn Letta am Donnerstag im Europäischen Rat seine Erkenntnisse und Forderungen vorstellt? Wohl eher wird das ein Fall von: Gut, dass wir mal darüber geredet haben.

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