Aktien:Zum Rekord gedopt

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Die Finanzmärkte profitieren vor allem seit 2008 von der großzügigen Geldpolitik der Notenbanken. Doch viele Anleger wissen nicht mehr, wohin mit ihrem Geld. (Foto: AP)

Die Börse ist der letzte Ort geworden, an dem Anleger Geld verdienen können. Doch so geht das Gespür für Risiken verloren. Das ist gefährlich.

Kommentar von Hans von der Hagen

Die Aktienmärkte haben ein gutes Jahr hinter sich. Das allein ist freilich nicht so bemerkenswert wie die Umstände, unter denen es zustande kam: Während die Corona-Krise vielen Unternehmen die Geschäfte schwer macht, während Arbeitnehmer entlassen und Freiberufler um ihre Existenz bangen müssen, erzielen Anleger teils üppige Gewinne. Dass Indizes wie der Dow Jones in den USA oder der Dax in Deutschland ausgerechnet in diesem Jahr Rekorde brachen, mutet dabei fast zynisch an. Doch die Börse kennt keinen Zynismus. Gleichwohl ist es irritierend, dass in einer der schlimmsten Krisen der Geschichte Anleger darauf setzen konnten, dass ihnen an der Börse kein allzu großes Unheil drohte. Das ist Folge schräger Gewissheiten, die in der Finanzkrise von 2008 wurzeln. Sie sind ein Problem.

Im Februar hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Die Zahl der an Covid-19 Erkrankten stieg da gerade rapide an, und die Börsen in den USA und Europa, deren Indizes wenige Tage zuvor noch Höchstmarken erklommen hatten, verloren in atemberaubendem Tempo teils mehr als ein Drittel ihres Wertes. Doch schon Mitte März setzte das ein, was als einer der rasantesten Aufschwünge überhaupt in die Börsengeschichte eingehen dürfte.

Viele hatten sich auf ein düsteres Börsenjahr eingestellt - weit gefehlt

Dabei hatten sich da viele Marktteilnehmer längst auf ein düsteres Börsenjahr eingestellt - so wie man das eben macht, wenn die Wirtschaft kollabiert, der Staat sich in immensem Ausmaß verschuldet und völlig unklar ist, wie es weitergeht. Dieser Aufschwung widersprach dem, was man vernünftigerweise erwarten konnte. Doch damit es überhaupt wieder aufwärtsgehen konnte, mussten ja auch entsprechend viele Marktteilnehmer Aktien kaufen. Waren die dann alle unvernünftig?

Natürlich nicht - sie positionierten sich nur anders und setzten eben auf jene Gewissheiten, die seit der Finanzkrise 2008 zu gelten scheinen. Wie erfolgreich sie damit waren, beweist der gerade erst am Montag aufgestellte Rekord des Dax. Es funktionierte, weil vor allem bei den institutionellen Anlegern nach Jahren der Nullzinspolitik Geld überreichlich vorhanden ist. Es funktionierte, weil es schwierig geworden ist, neben Aktien überhaupt noch sinnvolle Anlageziele zu finden. Und es funktioniert, weil Anleger darauf bauen, dass weder die US-Notenbank Federal Reserve noch die Europäische Zentralbank sie im Stich lassen werden, wenn es dann doch mal schiefläuft - so wie es auch im März geschah, als die EZB nach dem Einbruch wieder einmal die Geldschleusen öffnete. Für dieses Nicht-im-Stich-Lassen gibt es einen scherzhaft gemeinten und doch durchaus ernst genommenen Begriff: den Fed-Put, der ursprünglich mal in Anlehnung an den frühen US-Notenbank Chef Alan Greenspan "Greenspan-Put" hieß. Der Put ist in der Finanzsprache das Wort für ein Instrument, mit dem sich Anleger gegen fallende Kurse absichern. Der "Fed-Put" bedeutet also vereinfacht: Anleger brauchen sich keine Sorgen zu machen, die Notenbank selbst ist mit ihren vielen Maßnahmen wie Anleihekäufe oder Zinssenkungen Absicherung genug.

Doch was beim Crash 1987, später bei der Dotcom-Blase und vor allem während der Krise 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers in den Vereinigten Staaten als hilfreiches Schmerzmittel für die Finanzmärkte gedacht war, ist eine Art selbstverständlich gewordenes Dopingmittel geworden, das den Anwender vergessen lässt, wie das Leben ohne Schmerzmittel funktioniert. Er will es auch gar nicht mehr wissen. Und so gaukelt der jüngste Aufschwung dank des üppigen Einsatzes der Schmerzmittel eine Sicherheit vor, die es an der Börse nicht gibt. Da kann es auch nicht mehr überraschen, dass die Aktien einiger Hightech-Giganten manchen vertrauenswürdiger erscheinen als solide Anleihen.

Dass die extrem lockere Geldpolitik bislang zwar die Börse, nicht aber die Inflation treibt, mag viele am Markt zusätzlich in Sicherheit wiegen. Mehr noch: Es lässt selbst an der Wall Street zunehmend Menschen glauben, dass das Gelddrucken nach Bedarf keine Gefahren berge, sondern der richtige Weg sei, die Finanzen eines Staates zu regeln.

Kein Zweifel: Sich mithilfe von Aktien an Unternehmen zu beteiligen, ist gut und sinnvoll. Zu Unrecht wird die Börse von vielen verschmäht. Aber ein solches Investment birgt eben auch besondere Risiken, erst recht in Zeiten wie diesen, in denen manche Rekorde weniger als Zeichen für Optimismus denn als Signal für die Ratlosigkeit bei der Geldanlage gedeutet werden müssen. Das Gespür für die Risiken am Aktienmarkt kommt angesichts der so großzügig von den Notenbanken verteilten Schmerzmittel abhanden. Dabei ist es an der Börse nicht anders als in der Medizin: Wer Schmerzmittel futtert wie Smarties, lebt gefährlich.

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