Denken in Zeiten des Internets:Wie das Netz uns formt

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Das Onlinemagazin Edge hat Wissenschaftler, Autoren und Künstler gefragt, wie das Internet ihr Denken verändert hat. Die Antworten sind bemerkenswert.

Johannes Boie

Zwei Milliarden Menschen nutzen weltweit das Internet. Die Debatten um die neue Technologie verlaufen allerdings nicht überall gleich. In Deutschland beispielsweise beschränken sich die Diskurse um das Netz vor allem auf Medien- und Urheberrechtsdebatten.

Hat sich unser Denken in Zeiten des geändert? (Foto: Foto: iStock)

Die Veröffentlichung von "Payback", dem Buch des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrmacher hat der deutschen Debatte zwar die Tiefe gegeben, die das Thema verdient.

Im Vorfeld der Veröffentlichung gab Frank Schirrmacher dem amerikanischen Literaturagent John Brockman ein Interview für dessen Onlinemagazin für Wissenschaftskultur Edge.org.

Da ging es auch um die Frage, die Schirrmacher in seinem Buch behandelt - wie verändert das Internet das Denken? Brockman hat diese Frage nun aufgegriffen, und sie als seine Grundsatzfrage formuliert, die er am Ende jedes Jahres den Wissenschaftlern und Autoren stellt, die auf Edge debattieren und veröffentlichen.

Die Antworten wurden jetzt auf Edge.org veröffentlicht. Die Autoren sind 131 einflussreiche Wissenschaftler, Autoren und Künstler.

Mehr zerstreut als unterstützt

Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus. Und doch ist die Sammlung kurzer Essays ein gutes Beispiel dafür, auf welchem Niveau in den USA über das Internet debattiert wird. Wobei sich die Debatte keineswegs auf die zwei Lage der Zukunftseuphoriker und Kulturpessimisten beschränkt.

Und selbst wenn man selbst die Dinge anders sieht, fordern auch die kulturpessimistische Ansätze wie zum Beispiel die Aufsätze des Schriftstellers Nicholas Carr, des Medientheoretikers Douglas Rushkoff und des Mathematikers Nassim Taleb zum Nachdenken auf, anstatt zu Widerspruch zu reizen.

Taleb wird übrigens von der Veröffentlichung seines Textes nicht viel mitbekommen haben. Taleb ist bis zum Sommer 2010 bewusst offline. Und siehe da: "Ich fühle, wie ich wieder wachse", schreibt er. Wo die Online-Abstinenz zur Heilung wird, erscheint das Internet als Krankheit.

Dabei gesteht Taleb ein, dass "Technologien das Beste auf der Welt sind." Aber vom Internet fühlt er sich doch mehr zerstreut als unterstützt, der Wissenszuwachs im und durch das Netz erscheint dem Mathematiker als Illusion: "Wir denken wir wissen mehr als wir wirklich wissen", die Welt sei einer intellektuellen Hybris verfallen.

Bestes Beispiel dafür ist für ihn, dass auch das schier endlose Wissen des Netzes die Finanzkrise niemanden erahnen ließ. Taleb hingegen hatte im Jahr 2007 detailliert vor einem Zusammenbruch der Banken gewarnt.

Ein ähnliches Fazit auf anderem Weg erreicht Nicholas Carr, der vor allem darauf beharrt, dass die unterschiedlichen Trägermedien der bestehenden und der zukünftigen Welt zu großer Differenz in der Rezeption führen würden.

Ein vernetzter Computer sei das Gegenteil eines Buches, schreibt er. "Er schirmt uns nicht von externen Einflüssen ab, sondern ist dazu gebaut, unser Aufmerksamkeit zu zerstreuen." Carr sieht sich selber auf der Opferseite: "Meine eigene Lese- und Denkgewohnheiten haben sich dramatisch verändert, seit ich vor 15 Jahren zum ersten Mal ins Netz ging."

Der Medientheoretiker Rushkoff pflichtet Carr und Taleb bei. Bis auf einen knappen Absatz ist sein Aufsatz ein Plädoyer gegen das Netz. Insbesondere die Weiterentwicklung vom eher statischen Netz der Neunziger zum permanent aktiven Organismus bereitet ihm Kopfzerbrechen: Gedankliche Tiefe sei durch Unmittelbarkeit ersetzt worden. "Das Internet macht mich glauben, dass ich in Echtzeit (engl. Realtime) denke, tatsächlich nimmt es mir immer mehr vom Echten (engl. real) und der Zeit."

Auch Beststellerautor Douglas Coupland kämpft noch mit den Herausforderungen, die ihm das Netz bereitet: "Es zwingt mich" beginnt er gleich drei Sätze in seinem knappen, sehr persönlichen Text. Doch zu was das Netz den Autoren zwingt, ist nicht negativ: Zur Beschäftigung mit seiner Person als Schriftsteller, zum Beispiel.

Wissensvermittlung auf hohem Niveau

Außerdem befreit ihn der digitale Raum durch die gnadenlose Konfrontation mit abseitigen Inhalten von Naivität und beschert dem Schriftsteller Verständnis für neue Musikrichtungen: "Die Weiterentwicklung des persönlichen Geschmacks ist ein unendlicher Prozess geworden." Seine Leidenschaft für die digitale Kultur stellte Coupland zuletzt in seinem Buch "Generation A" unter Beweis, er beschreibt darin die digitale Jugendkultur, deren Mitglieder längst gewohnt sind, in Netzwerken zu denken.

Noch positiver urteilt Chris Anderson über die Auswirkungen des Netzes. Anderson ist Organisator der TED Konferenzen, auf denen jährlich Wissenschaftler und Autoren ihre Vision einer besseren Welt präsentieren. Die Vorträge sind auch online abrufbar, und genau das ist es, was Anderson so zuversichtlich macht. Das Internet betrachtet er als das erste audiovisuelle Medium, in dem Wissen auf hohem Niveau vermittelt wird: "Der Eindruck, den ein Redner auf intellektueller Ebene bei seinen Zuhörern hinterlässt, ist im Video viel höher als in einer gedruckten Version."

Das Fernsehen habe seine Chance gehabt - und an oft blödsinnige Unterhaltungssender verschenkt. Deshalb begrüßt Anderson das Internet als neue, digitale Massenkommunikation und entwickelt daraus sogar etwas, das im Netz bislang eher rar ist. Nämlich Geschäftsmodelle: "Es werden immer bessere Redner gesucht. Und man kann sich leicht vorstellen, wie Musiker in Zukunft ihre Musik verschenken, aber 100 Dollar-Tickets für gefilmte Live-Aufnahmen verkaufen."

Inspiriert durch die neuen digitalen Möglichkeiten fühlt sich auch der Schweizer Kurator für zeitgenössische Kunst Hans-Ulrich Obrist. Den digitalen Wandel kann man seiner Meinung nach kaum überschätzen: "Wir leben in einem Zeitalter, in dem sich das Zentrum der Schwerkraft verschiebt." Sein Denken adaptiere die neuen Dienste. Zum Beispiel sei die Verfügbarkeit von Karten und Listen ein Grund, warum sie in der Struktur seiner Gedanken eine immer größere Rolle spielten. Auch seinen Text für Edge hat Obrist als alphabetisch geordnete Liste gestaltet.

Eben diese verführerische Klarheit von computergenerierten Listen, von digitaler Ästhetik ist es, die Jaron Lanier, Musiker und Experte auf dem Feld der virtuellen Realität ängstigt. "In den letzten zehn Jahren ist das Netz zu einer realitätsverleugnenden Angelegenheit geworden." Der Glaube an abstrakte, unsterbliche Informationsmaschinen sei verführerisch, täusche die Menschen aber gewaltig; schließlich bleibe man eine schmutzige, sterbliche in einem Körper eingesperrte Kreatur.

Verführerische Klarheit

Dabei begann für Lanier alles so großartig: Am Anfang war das Netz "eine große Befreiung, das mein Denken in vielerlei Hinsicht positiv beeinflusst hat." Es habe bewiesen, dass die passive Gesellschaft des 20. Jahrhunderts vor dem Fernseher nichts als ein böser, vergänglicher Traum gewesen sei.

Vielleicht die interessanteste Antwort auf die von Edge gestellte Frage, wie das Internet sein Denken verändert habe gibt der Psychologie-Professors Steven Pinker von der Harvard University. "Überhaupt nicht" überschreibt er seinen Text und im Übrigen glaube er auch nicht, dass überhaupt das Denken von irgendjemandem verändert worden sei.

Zum Beispiel habe er niemals Studenten getroffen, die wegen übermäßigem Netzkonsum nicht mehr klar argumentieren konnten, schreibt Pinker und widerspricht damit vielen anderen Autoren: "Viel interessanter als die Frage, wie das Netz unser Denken verändert, ist die Entwicklung des Netzes sich unserem Denken anzupassen."

Klingt, als hätte der Professor das Netz mehr verwendet als darüber nachgedacht, was es möglicherweise mit ihm machen könnte.

© SZ vom 09.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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