Dax:Wie verrückt ist die Börse?

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Die Frankfurter Börse: Der Dax steigt und steigt. (Foto: Reuters)

Der Dax steht knapp vor seinem historischen Höchststand - trotz Krieg, trotz Energiekrise, trotz Inflation.

Von Harald Freiberger

In einer Woche ist Karneval, in Köln haben dann wieder die Jecken das Sagen. Jeck ist ein anderes Wort für "verrückt" - ein Wort, das vielen Menschen in den Sinn kommt, wenn sie das aktuelle Börsengeschehen betrachten. Die Aktienkurse sind seit Anfang des Jahres so stark gestiegen, dass der Deutsche Aktienindex (Dax) nur noch etwa vier Prozent von seinem historischen Höchststand entfernt ist. Und das nach einem Jahr, das viele Menschen als das schlimmste empfinden, das sie je erlebt haben: Es gibt Krieg in Europa, es gibt eine massive Energiekrise, es gibt die höchste Inflation seit 51 Jahren, es herrscht Angst vor einer Rezession. Da kann man schon mal fragen: Wie jeck ist die Börse?

Ein Versuch, die Vorgänge zu verstehen: Der erste Blick ist ein ökonomischer, der danach fragt, was die Börse in ihrem Kern ist und was die Aktienkurse im Grunde bewegt. Der Aktienkurs spiegelt den Wert eines Unternehmens, der von seiner Fähigkeit abhängt, Gewinne zu erzielen. Dabei geht es immer um die Gewinne der Zukunft. Wer in ein Unternehmen investiert, hofft darauf, dass es in der Zukunft gut abschneidet. Das gilt auch für den Kredit, den eine Bank einem Unternehmen gibt. Wirtschaften ist ohne dieses spekulative Element nicht denkbar. Investoren versuchen vorherzusehen, was mit Unternehmen in der Zukunft passiert. Deshalb heißt es, dass die Börse der Entwicklung der realen Wirtschaft immer um ein halbes bis ein ganzes Jahr voraus ist.

Dies ist wichtig, um zu verstehen, weshalb sich die Lage für die Börsianer nicht mehr so schlimm darstellt, wie sie vielen Bürgern erscheint: Sie haben das schlimme Jahr 2022 abgehakt, und sie sehen jetzt, dass es 2023 wieder aufwärts geht. Die befürchtete Energieknappheit in Europa ist bisher nicht eingetreten, die Inflation ist auf dem Rückzug, was heißt, dass die Zinsen nicht mehr allzu sehr steigen dürften, und die Gefahr einer Rezession scheint fast gebannt, und das heißt: Die Unternehmen werden auch in Zukunft Gewinne machen. So wie sie es übrigens auch im schlimmen Jahr 2022 taten: VW meldete am Mittwoch einen operativen Gewinn von 22,5 Milliarden Euro, 12,5 Prozent mehr als im Jahr davor.

Es wirkt, als würden die Anleger auf den Gräbern der Kriegsopfer tanzen

Das lenkt den Blick auf einen zweiten Aspekt, der die Funktion der Börse unter moralischen Gesichtspunkten beleuchtet: VW ist ein exportorientierter Konzern, der seine Automobile in allen Teilen der Welt verkauft. Die Absatzmärkte in Russland und der Ukraine spielen für ihn nur eine kleine Rolle. Im Bewusstsein der Menschen aber ist der Ukraine-Krieg, der unermessliches humanitäres Leid mit sich bringt, ein schreckliches Ereignis. Es ist für sie unvorstellbar, wie es sein kann, dass sich die Börse - also die weltweiten Investoren - davon nicht beeindrucken lassen. Für viele ist es der Beweis für den zynischen oder unmoralischen Charakter der Börse: Es wirkt, als würden die Anleger auf den Gräbern der Kriegsopfer tanzen.

Das bessere Wort aber lautet "amoralisch": Die Börse kennt keine Moral, sie schaut ausschließlich darauf, wie sich die Gewinne der Unternehmen künftig entwickeln, und zwar weltweit. Aus diesem Blickwinkel ist der Ukraine-Krieg nur ein regionaler Konflikt, der das weitere Wachstum der Weltwirtschaft kaum beeinträchtigt - wie etwa die Gewinne des Weltkonzerns VW zeigen.

Es kann sein, dass die Investoren die Lage zu optimistisch sehen. Die Börse ist der realen wirtschaftlichen Entwicklung immer um ein halbes oder ein ganzes Jahr voraus. Das bedeutet, dass sie sich auch irren können, wenn die Realität nicht so eintritt, wie sie es erwartet haben. Im Börsenjargon heißt das dann "Korrektur". Börsen-Altmeister André Kostolany hat das Bild von Herrchen und Hund geprägt: Auf einem Spaziergang wird der Hund (die Aktienkurse) dem Herrchen (der realen Entwicklung) immer mal voraus- oder hinterherlaufen, am Ende aber kehren sie gemeinsam nach Hause zurück. Das heißt: Vorübergehend kann die Börse verrücktspielen, auf lange Sicht aber spiegelt sie die wirtschaftliche Entwicklung der Welt eins zu eins wider. Ob die Börse gerade "jeck" ist, wird man erst in einem halben oder einem ganzen Jahr wissen.

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