Wie man mit 69 Jahren und einfachsten Mitteln eine Republik in Aufruhr versetzt, macht gerade Marianne Grimmenstein vor. Sie bereitet die größte Bürgerklage vor, die Deutschland bislang gesehen hat: Grimmenstein will das europäische Freihandelsabkommen mit Kanada, kurz: Ceta, vor dem Verfassungsgericht zu Fall bringen. 41 000 Menschen treten mit ihr offiziell als Nebenkläger auf. So viele waren noch nie dabei: Gegen die Vorratsdatenspeicherung legten 35 000 Menschen Verfassungsbeschwerde ein, gegen den Euro-Rettungsschirm 37 000.
Das Abkommen mit Kanada ist das Pendant zu dem in der Öffentlichkeit präsenteren TTIP, dem Freihandelsabkommen zwischen Europäischer Union und USA. Aber Grimmenstein ist sich sicher: Ceta ist wichtiger. Denn das Ceta-Verfahren ist nun der Präzedenzfall - also ein Rechtsstreit, der stellvertretend für ähnliche Verfahren steht. Wenn es ihr gelänge, die für dieses Jahr geplante Ratifizierung von Ceta vor dem Bundesverfassungsgericht aufzuhalten, könnte sie womöglich auch TTIP stoppen, hofft Grimmenstein.
Sollte es so weit kommen, kann man sich die Schlagzeilen heute schon ausmalen: "Flötenlehrerin stoppt Freihandelsabkommen". Dass sich mit Grimmenstein eine Musiklehrerin aus Lüdenscheid so sehr mit Ceta beschäftigt, mag überraschen. Doch sie unterrichtet nicht nur seit 40 Jahren Querflöte, sondern ist auch seit mehr als 20 Jahren "Hobbyjuristin", wie sie es selbst nennt, und engagiert sich ähnlich lang in dem Verein "Mehr Demokratie". Als ordentliche Hobbyjuristin hat sie natürlich auch Schwerpunkte: Verfassungsrecht und Völkerrecht. "Mich interessiert, wo was verletzt wird", sagt sie. Sie lese tatsächlich gerne im Grundgesetz - "ich habe es immer griffbereit". Es liegt wohl in der Familie: Vater und Großvater waren Juristen in Budapest, wo sie selbst ebenfalls aufwuchs.
Seit vier Jahren nun beschäftigt sie sich "intensiv" mit dem Freihandelsabkommen. Gestützt auf einen Artikel des Rechtswissenschaftlers Axel Flessner, der beschreibt, wie TTIP das Grundgesetz verletzt, formulierte sie schon 2014 in zehn Tagen auf zehn Seiten eine Verfassungsbeschwerde gegen Ceta. Ihr Hauptkritikpunkt: Das Wahlrecht des Bürgers werde durch das Freihandelsabkommen egalisiert. Ganz gleich, wen man dann noch wähle - in der Auseinandersetzung mit ausländischen Investoren könne mit Ceta ein inländischer Politiker dann nichts mehr ausrichten.
"Meine Beschwerde kam zu früh"
Grimmenstein erzählt, dass sie sich damals "sehr beeilt" habe, weil schon im September 2014 Kanada und die EU die Verhandlungen abschließen wollten. Seinerzeit nahm sie fälschlicherweise an, dass damit auch der Ratifizierungsprozess beginne. Danach noch mit einer Verfassungsbeschwerde zu kommen, wäre sinnlos gewesen. Doch bis heute ist Ceta nicht in Kraft. Im November 2014 lehnte Karlsruhe ihre Beschwerde ab, weil sie nicht hinreichend begründet gewesen sei. Grimmenstein sagt: "Meine Beschwerde kam zu früh, es gab noch keinen ratifizierungsfähigen Text, auf den sich das Gericht hätte beziehen können." Karlsruhe habe keine andere Wahl gehabt.
Die Ablehnung machte sie nur noch entschlossener. Entschlossener zu sein war auch nicht sonderlich schwierig, denn die Klage hatte Grimmenstein einige Aufmerksamkeit beschert. Die auf Kampagnen spezialisierte Webseite Change.org fragte bei ihr an, ob sie nicht eine Online-Petition starten wolle. Natürlich wollte sie. Darum hat Grimmenstein neben den 41 000 Mitklägern nun auch mehr als 100 000 Unterstützer. 14 000 Euro kamen überdies an Spenden zusammen. Geld, das für die neue Klage verwendet wird, die dieses Mal von einem Verfassungsrechtler formuliert wird.
Mit zehn Experten hatte sie gesprochen und sich am Ende für Andreas Fisahn von der Universität Bielefeld entschieden, weil er sich gleichermaßen mit Wirtschafts- und Verfassungsrecht auskenne. Grimmenstein ist zuversichtlich, dass es dieses Mal mit der Klage klappt. Wenn nicht, will sie bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Und sie freut sich über die noch immer rasant wachsende Zahl von Unterstützern. Das Gerede von der Politikverdrossenheit sei doch blanker Unfug. Man müsse die Bürger eben nur aktivieren. "Ein Volk, das man nicht fragt, kann auch nicht tätig werden."