Börsencrash 1929:Als der Regenbogen seine Farbe verlor

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Über Nacht reich werden? Im Jahr 1929 schien in Amerika das Leben leicht und bunt wie nie zuvor zu sein. Doch dann kam der große Crash.

Moritz Koch, New York

Es war ein Sommer der Rekorde. Brütende Hitze stand in den Straßenschluchten von Manhattan und hatte die Menschen aus der Stadt vertrieben. Die feine Gesellschaft suchte Erfrischung in den Hamptons und die neue Mittelschicht ahmte in den Rockaways den Prunk der Millionäre nach.

Blick in die Wall Street im Jahr 1929. (Foto: Foto: AFP)

Noch höher als die Temperaturen stiegen im Sommer 1929 die Indikatoren der Konjunktur. Fabriken und Stahlschmelzen liefen heiß, die Auftragsbücher der Unternehmen waren prall gefüllt. Der Konzern American Gas und Electric System nahm das größte Stromnetz der Welt in Betrieb, und Ford produzierte das zweimillionenste Auto der Reihe Model A - sechs Monate nachdem Nummer 1.000.000 vom Band gelaufen war. Nur in den USA war so etwas möglich.

Land auf dem Regenbogen

Die Massenfertigung veränderte den Aussiedlerstaat, er hob das Land in den Status einer Weltmacht und machte seine Großstädte zu den Herzkammern einer neuen Epoche. Nirgendwo zeigte sich der Aufbruch so deutlich wie in New York. Immer höher ragten die Hochhäuser in den Himmel von Manhattan. Paris, London und Berlin erblassten im Vergleich zum Glamour und der Lebensfreude der neuen Welt.

Der Sommer 1929 für die meisten Amerikaner der endgültige Beweis, dass die "New Era" Wirklichkeit geworden war, von der Präsident Calvin Coolidge vor der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Herbert Hoover gesprochen hatte. Auf einem Regenbogen, so formuliert es der Finanzhistoriker Maury Klein, schien das Land einem Reich der wahr gewordenen Träume entgegen zu wandeln. Die Zeit der Entbehrungen sollte verstrichen sein, Mangel und materielle Not der Vergangenheit angehören.

Jedem winkte ein Leben in Reichtum. Klein: "Der Aktienmarkt schob sich ins Zentrum der amerikanischen Kultur. Er verdrängte fast alle anderen Themen beim Abendessen, Konferenzen, sozialen Zusammenkünften und sogar bei Dates."

Wer nicht genügend Geld hatte, um auf die Regenbogenbrücke an der Wall Street zu gelangen, konnte es sich leihen. Es war leicht in diesen Tagen, Kredite für Spekulationsgeschäfte aufzunehmen.

Auch Seth Glickenhaus ließ sich von der Magie der steigenden Kurse fesseln. Eigentlich wollte er Arzt werden und als Botenjunge im Investmenthaus Salomon Brothers nur etwas Geld für sein Studium verdienen. Doch Glickenhaus blieb an der Wall Street - bis heute. 95 Jahre ist er inzwischen alt und einer der bekanntesten Vermögensverwalter New Yorks. Viele Investmententscheidungen seiner Firma Glickenhaus & Co. trifft er noch immer selbst.

"Fürchterliche Zeit"

Wenn Glickenhaus an das Jahr 1929 zurückdenkt, sagt er: "Es war eine fürchterliche Zeit damals."

Denn am Ende des Regenbogens wartete nicht das Paradies, sondern der Abgrund. Schon im September begann der Markt zu stagnieren. Unter den professionellen Investoren wuchs die Nervosität. Immer mehr Anleger spürten, dass die Buchgewinne, die ihre Portfolios auswiesen, nicht halten würden.

Wie ein Funkenschlag einen ausgetrockneten Wald in Flammen setzen kann, konnten Verkaufsorders einen drastischen Kursrutsch auslösen. Genau so kam es, auch wenn sich die Ereignisse zunächst so graduell vollzogen, dass der Wall Street Chronist John Brooks ihnen eine "Art surrealer Behäbigkeit" zuschrieb.

Das, was heute als der Große Crash bekannt ist, war nicht ein singuläres Ereignis, sondern eine Serie von Kursausschlägen in der zweiten Oktoberhälfte. Am 23., einem Mittwoch, steuerte die Unruhe der Anleger ihrem Höhepunkt entgegen. Am Morgen noch war alles wie gewöhnlich. Die Kurse stiegen leicht, die Händler schwirrten über das Börsenparkett, hielten über Telefone und Telegraphen Kontakt zu ihren Brokerhäusern.

Doch auf einmal gerieten Autoaktien unter Druck. Immer mehr Verkaufsaufträge gingen bei den Händlern ein, kaufen wollte kaum noch jemand. Die Broker waren in heller Aufregung. Am Abend war der Dow Jones Index um 20,66 Punkte gefallen. Es war der bis dahin stärkste Tagesverlust der Geschichte und doch nur der Vorbote für einen weit schlimmeren Crash. Mehr noch als das Entsetzen über den Kursrückgang, beschäftigte die Investoren die Angst vor dem nächsten Morgen.

Düstere Gewissheit

Jeder an der Wall Street wusste: Die Verluste würden weitere Verkaufswellen nach sich ziehen, weil so viele Spekulanten geliehenes Geld investiert hatten. Je weiter die Kurse nachgaben, desto mehr Sicherheiten - sprich Kapital - mussten die Schuldner bei ihren Gläubigern hinterlegen.

In der Regel konnten sie das nicht. Die auf pump gekauften Aktien würden an die Gläubiger übergehen, meist Brokerhäuser, die sie dann so schnell es ging verscherbeln müssten.

Zusätzliche Kraft bezog das Finanzdesaster aus den sogenannten Stopps. Damals wie heute vereinbarten Investoren mit ihren Brokern bestimmte Kursschwellen, wurden sie von einer Aktie unterschritten, musste das Papier sofort verkauft werden.

Es war am Abend des 23. Oktober eine düstere Gewissheit: Der Kursrutsch würde eine Lawine auslösen und den ganzen Markt erfassen.

Die Aufregung ging in Panik über, als die Börse eröffnete. Tausende Verkaufsorders gingen innerhalb der ersten Minuten ein und überlasteten das Handelssystem. Informationen stauten sich auf dem Weg aus der Börse in die Brokerhäuser. Telefonisten waren am Rande des Nervenzusammenbruchs. Auch auf dem Börsenparkett verloren die Händler den Überblick. Es kam zu Handgreiflichkeiten.

Ende der "New Era"

Chaos brach aus. Als sich die Nachrichten vom Crash in der Stadt verbreiteten, versammelten sich besorgte Bürger auf der Wall Street, die ihre Ersparnisse als Sicherheiten für Brokerkredite hinterlegt hatten. Die meisten von ihnen sollten an diesem Tag alles verlieren.

Der 24. Oktober 1929 wurde zu einem traumatischen Ereignis, nicht nur für Amerika, auch in Europa. Das Datum brannte sich als schwarzer Donnerstag tief in das kollektive Gedächtnis der westlichen Welt ein. Es markiert das abrupte Ende der "New Era".

Die Ereignisse überschlugen sich und trieben die Investoren in ein Wechselbad der Gefühle. Fast 13 Millionen Aktien wurden in New York an diesem Tag gehandelt, die alte Höchstmarke um vier Millionen Stück übertroffen. Glaubten die Händler am Mittag in den Höllenschlund zu schauen, schien es schon am Nachmittag, als ob sie erlöst würden.

Banker organisierten Stützungskäufe und schickten den Börsenvorstand Richard Whitney aus, um den Markt zu beruhigen. Whitney kaufte zehntausende Aktien für Preise, die deutlich über ihrem momentanen Marktwert lagen, und gab anderen Investoren neuen Mut. Die Kurse erholten sich.

Lehren aus dem Crash
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N. Piper

Am Freitag titelte die Zeitung New York Daily Investment News: "Krise am Aktienmarkt vorbei." Präsident Herbert Hoover beeilte sich, die Stärke der amerikanischen Wirtschaft zu beschwören. Und Unternehmensführer konnten dem Platzen der Spekulationsblase zunächst sogar etwas Positives abgewinnen. Alfred Sloan, legendärer Chef des Autokonzerns General Motors, ließ auf einer Geschäftsreise in London verlauten: Was geschehen sei, sei eine "gesunde Sache": "Jetzt werden alle wieder arbeiten gehen, anstatt sich der Hoffnung hinzugeben, dass es möglich sei, über Nacht reich zu werden." Doch die Beruhigungsversuche der Elite wirkten nur kurz.

Der Crash hatte den Optimismus der Bürger gebrochen, der die Konjunktur beflügelt hatte und die Wirtschaft mit dem Bazillus der Furcht infizierte. Allerdings führte der Crash anders als weithin angenommen nicht direkt in die Große Depression. Die Börsen erholten sich zunächst etwas und die Konjunktur hielt der Krise eine Weile stand.

Panik wie seit 1929 nicht mehr

Der 24. Oktober 1929 ist das Referenzdatum der gegenwärtigen Finanzkrise. Der Zeitzeuge Seth Glickenhaus wurde in den vergangenen Monaten oft nach seiner Einschätzung gefragt. Er beteuert, dass er so viel Panik unter Anlegern wie im vergangenen Herbst, als die Investmentbank Lehman Brothers kollabierte, seit 1929 nicht mehr gesehen habe. Doch dass sich die Geschichte wiederholen und auf den Börsencrash von 2008 eine zweite Depression folgen könnte, hält Glickenhaus für abwegig.

Der Investor teilt die Auffassung der meisten Wirtschaftshistoriker: "Der Weg in die Depression wurde erst von fatalen politischen Fehlentscheidungen geebnet", sagt er. Mehrfach traten die Gouverneure der Notenbank Federal Reserve in den turbulenten Oktobertagen von 1929 zusammen - und taten nichts.

Ebenso schädlich wie die Passivität der Notenbanker wirkten sich die Entscheidungen von Präsident Herbert Hoover und des Kongresses aus. Bald nach dem Crash erhöhten sie die Steuern und errichteten Schutzzölle. Erst das brach die Widerstandkraft der Wirtschaft. Massenarbeitslosigkeit, Armut und Hunger in Amerika und in Europa waren die Folge.

Im Herbst 2008 reagierte die Welt dagegen mit herber Entschlossenheit. Notenbanken und Regierung kamen den Börsen zur Hilfe. Sie senkten die Leitzinsen auf historische Tiefststände und legten gewaltige Konjunkturprogramme auf.

Glickenhaus ist vollen Lobes für die Markteingriffe, wie so viele in seiner Generation ist er ein überzeugter Keynesianer: "In einer Krise wie dieser ist es mir lieber, der Staat macht zu viel als zu wenig. Die Schulden kann er später zurückzahlen."

Der Kontrast zu 1929 könnte kaum größer sein, meint Glickenhaus. Er erinnert daran, dass es nach dem Crash in Amerika dreieinhalb Jahre dauerte, bis sich der Staat mit Macht gegen die Krise stemmte. Erst mit der Wahl von Franklin D. Roosevelt schüttelte Washington den doktrinären Glauben das Gebot eines ausgeglichen Staatshaushalts und die Selbstheilungskraft des Marktes ab.

Der Staat ließ Straßen, Brücken und Schulen bauen und brachte seine Bürger zurück in Lohn und Brot. Der New Deal wurde ausgerufen und so die Blaupause für die Markteingriffe geschaffen, die 80 Jahre später die Welt vor einer zweiten Großen Depression bewahrten.

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