Luftfahrt:Boeings Dilemma

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Einzelteile einer Boeing "737 MAX". Die Maschine ist nach zwei Abstürzen in Verruf geraten. (Foto: Ellen M. Banner/AP)

Der US-Luftfahrtkonzern verliert immer mehr Marktanteile an den europäischen Konkurrenten Airbus. Ein neues Flugzeug wird das Unternehmen in diesem Jahrzehnt nun nicht mehr entwerfen. Dabei bräuchte er dringend eins.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Es ist vielleicht die zentrale Frage, vor der die zivile Luftfahrtindustrie derzeit steht: Wann endlich baut Boeing ein neues Flugzeug, das es mit den Modellen des Konkurrenten Airbus aufnehmen kann? Wenn man Boeing-Manager dazu befragt hat, haben die zuletzt eher abgewiegelt, aber auch nichts ausgeschlossen. Doch nun hat sich Konzernchef David Calhoun festgelegt: "Wir werden es in diesem Jahrzehnt noch nicht einmal bis zum Reißbrett schaffen."

Boeing, einst Marktführer im zivilen und militärischen Flugzeugbau, befindet sich im anscheinend unaufhaltsamen Niedergang. Seit Airbus mit der A320neo-Familie eine neue Version der erfolgreichen Kurz- und Mittelstreckenserie A320 anbietet, hat Boeing immer mehr an Marktanteilen verloren. Die eilig aufgelegte 737 MAX kann in Sachen Reichweite und Kapazität bei Weitem nicht mithalten, die zwei Abstürze der Maschinen von Lion Air und Ethiopian, das folgende Flugverbot und der Produktionsstopp haben die Modellreihe massiv in Misskredit gebracht. Boeing hat noch 4166 Aufträge für die MAX, während Airbus auf 6115 für die A320neo und 546 für die A220-Serie kommt, der Marktanteil des US-Herstellers gemessen am Auftragsbestand liegt damit bei erschreckenden 38 Prozent.

In den kommenden 15 Jahren würde kein neues Boeing-Flugzeug auf den Markt kommen

Das größte Problem mit dem Nichtstun ist aber Folgendes: Es würde bedeuten, dass in den kommenden knapp 15 Jahren kein neues Flugzeug auf den Markt kommt, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der der politische Druck auf die Branche, mehr für die Umwelt zu tun, so groß wie noch nie ist. Eine solch lange Pause hat es noch nie gegeben. Und selbst wenn Boeing glaubt, damit davonzukommen, die Fluggesellschaften müssen sich gegenüber ihren Kunden mehr und mehr rechtfertigen und werden den Druck ebenfalls massiv erhöhen.

Wer gedacht hatte, dass es gar nicht schlechter laufen könnte als in der Zivilsparte, der sah sich schwer getäuscht, als Boeing jüngst die Geschäftszahlen für das dritte Quartal veröffentlichte und milliardenschwere Abschreibungen für Militärprogramme bekannt gab, unter anderem für Tankflugzeuge und die neue Air Force One. Programme, die den Konzern auf Jahre aus belasten werden, ebenso wie die mehr als 50 Milliarden Dollar an Schulden, die Boeing dank der Corona-Pandemie, der MAX-Krise und einem mehr als einjährigen Produktionsstopp bei der Langstreckenmaschine 787 aufgehäuft hat.

Eine Boeing "737" von Ryanair landet auf dem Konrad-Adenauer-Flughafen Köln-Bonn. (Foto: Federico Gambarini/picture alliance/dpa)

Kurzfristig, so viel ist klar, wird Boeing es sich nicht leisten können, ein neues Programm zu starten, selbst wenn Calhoun dies wollte. Im Vordergrund steht der Abbau von Schulden, die Produktion wieder auszuweiten und einen deutlich höheren positiven Cashflow zu generieren, um die Investoren und die, wie man hört, extrem besorgte amerikanische Regierung zu beruhigen. Und dann?

Boeing steht vor einem Dilemma. Wenn man die Zahlen betrachtet - den Marktanteil von unter 40 Prozent vor allem - dann wäre eigentlich Eile geboten, wenn das Ziel ein stabiles Duopol sein soll. Wenn ein Hersteller einmal eine Airline für sich gewonnen hat, wird diese es sich dreimal überlegen, ob sie beim nächsten Mal wechselt - die Kosten für Training und Wartung sind in der Regel sehr teuer. Nur die ganz großen Fluggesellschaften erlauben es sich deshalb, Flugzeuge sowohl bei Airbus als auch bei Boeing zu kaufen.

Dass Boeing unter Druck ist, wissen natürlich auch die Airlines, sie drängen daher auf massive Preisnachlässe. Umgekehrt wollen die Lieferanten von Flugzeugkomponenten wegen der geringeren Stückzahlen mehr Geld. So gesehen hat Boeing keine Zeit zu verlieren, zumal ein neues Modell locker acht Jahre bis zur Marktreife braucht.

Calhoun jedoch argumentiert in Sachen Reißbrett nicht nur mit der finanziellen Lage seines Unternehmens. Seiner Meinung nach stehen die Technologien, die Boeing bräuchte, nicht vor 2030 bereit. Wenn ein neues Flugzeug nicht mindestens 20 Prozent weniger Sprit verbrauche als die aktuellen, dann müsse man gar nicht erst mit der Arbeit beginnen, erläutert Calhoun. Die Triebwerkshersteller glauben, in den kommenden Jahren noch einmal zehn Prozent herausholen zu können. Boeing müsste die übrigen zehn Prozent finden - einen neuen Rumpf, neue Tragflächen, neue Materialien. Schwer, aber nicht unmöglich.

Ein Mechaniker arbeitet an einem Triebwerk der "737 MAX". (Foto: Ellen M. Banner/AP)

Für die Branche hat Calhouns Ansage naturgemäß erhebliche Folgen, je nach Standpunkt positive oder negative Auswirkungen: Für das Triebwerkskonsortium rund um Pratt & Whitney, zu dem auch das Münchner Dax-Unternehmen MTU Aero Engines gehört, bedeutet es, dass auch weiterhin keine Chance besteht, auf ein Boeing-Standardrumpfflugzeug zu kommen. Auf der 737 hat Konkurrent CFM International (GE Aerospace und Safran) das Monopol. Für CFM hingegen ist Calhouns Ansage genau die Nachricht, auf die man lange gewartet hat. Denn damit ist das gemütliche Monopol auf der 737 weiter gesichert, und da CFM auch für Airbus einen großen Teil der Motoren liefert, sind auch weiterhin ungleiche Marktanteile kein Problem.

Airbus selbst kann gar nichts Besseres passieren, als dass Boeing nichts tut. Die Europäer kontrollieren nahezu zwei Drittel des Marktes und können sich auf das Projekt ZEROe konzentrieren, ein Wasserstoff-Flugzeug, das 2035 bereit sein soll und von den Regierungen Frankreichs und Deutschlands mit Forschungsprogrammen großzügig unterstützt wird.

So weit, so unklar. Denn es gibt andererseits Tausend Gründe, warum Boeing den Kurs trotz aller finanziellen Engpässe nicht durchhalten kann. Ein ganz praktischer könnte sein, dass Calhoun angesichts der verzweifelten Lage früher seinen Posten räumen muss. Und zwar gar nicht so sehr wegen der trüben Aussichten, sondern weil es dem Management offenbar nicht gelingt, den laufenden Betrieb ohne ständige Milliarden-Abschreibungen und Pannen zu gewährleisten. Es ist ein offenes Geheimnis in der Branche, dass die Biden-Administration mögliche Kandidaten abgefragt hat. Bislang hat sich niemand den Job antun wollen. Aber wenn doch, wäre ein Strategieschwenk mit dem Ziel, einen weiteren Bedeutungsverlust zu verhindern, wahrscheinlich.

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