Kommentar:In der Wachstumsfalle

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(Foto: Bernd Schifferdecker)

Das Bruttoinlandsprodukt taugt nicht mehr als Erfolgsbarometer für die Wirtschaft. Doch noch fehlen die Alternativen.

Von Silvia Liebrich

Wächst die deutsche Wirtschaft oder wächst sie nicht? Und wenn nicht, wäre das dann wirklich so schlimm, wie es den Anschein hat? Keine Frage, die Pandemie löst in Deutschland und dem Rest der Welt die wohl schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Klar ist auch, es wird lange dauern, bis die Nachwirkungen überstanden sind. Doch Krisen wie diese bieten auch die Chance, die grundlegenden Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu hinterfragen - und zu ändern.

Hier geht es auch um die grundlegende Frage, mit welchen Maßstäben der Erfolg des Wirtschaftens gemessen werden soll. Die wichtigste Kennzahl, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), ist in die Jahre gekommen. Sie ist nicht geeignet, um die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Die lange gültige Formel: je höher die Leistung der Volkswirtschaft, desto besser geht es den Unternehmen und Menschen, geht nicht mehr auf. Trotz guter Wachstumszahlen im vergangenen Jahrzehnt wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich auch in Deutschland. Die Pandemie dürfte diese Lücke vergrößern.

Ziel des BIP ist es, grob ausgedrückt, den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einem Land hergestellt wurden, zu erfassen. Systematisch erfasst werden Wirtschaftsdaten seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ohne diese Statistiken lässt sich die Wirtschaftsleistung eines Landes nicht verlässlich berechnen. So gesehen hat das BIP lange Zeit seine Aufgabe besser erfüllt als jedes andere Instrument. Doch das ist vorbei.

Wachstumszahlen, wie vom BIP erfasst, bieten keine Orientierungshilfe mehr in einer Welt, die an ihre planetarischen Grenzen stößt. Was auf der einen Seite wächst, richtet allzu oft an anderer Stelle gewaltige Schäden an. Schäden, die auch nicht in Firmenbilanzen erfasst werden, etwa die Klimakrise, drohende Rohstoffknappheit, zunehmend gefährdete Wasserreserven und Böden. Nicht zuletzt der Verlust von Artenvielfalt, von der das Dasein der Menschheit abhängt. Diese Zusammenhänge wurden lange nicht erkannt, geschweige denn berücksichtigt im Wohlstandsbarometer.

Die Folgen der Klimakrise bleiben außen vor

Die Herausforderungen sind inzwischen ganz andere - und das hat auch mit der Globalisierung zu tun. Eine Hose etwa wurde noch vor fünfzig Jahren zum großen Teil in Deutschland produziert, vom Garn über den Stoff bis zum fertigen Kleidungsstück, das machte auch die Kostenrechnung übersichtlich. Im Gegensatz dazu werden Textilien und ihre Vorprodukte heute global und an vielen unterschiedlichen Orten produziert, oft unter prekären Umständen, die zulasten von Mensch und Umwelt gehen - Kosten, die nicht in der Bilanz stehen und auch nicht auf dem Kassenbon auftauchen. Auch wird in den meisten Fällen, wenn überhaupt, nur ein kleiner Teil der Kosten von CO2-Emissionen in den Firmenbilanzen erfasst.

Wenn sich also Konjunkturforscher von DIW oder Ifo-Institut derzeit uneins darüber sind, wie stark die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal schrumpft, ob nun um 1,5 oder 0,7 Prozent, so sind diese Zahlen wenig aussagekräftig, sie spiegeln nur einen Teil der Wahrheit wider. Daraus ergibt sich die zweite wichtige Frage: Welche Rolle können und sollen solche Wachstumszahlen zukünftig noch spielen? Viel wichtiger wäre es, Unternehmen nicht daran zu bemessen, wie stark Gewinne und Umsätze steigen, sondern wie ökologisch sie arbeiten, wie gut sie mit ihren Mitarbeitern umgehen und zum Gemeinwohl beitragen.

Das allerdings klingt viel einfacher, als es tatsächlich ist. Und das ist der Hauptgrund, warum der Abschied vom BIP so schwerfällt. Das sich etwas ändern muss, daran besteht kaum Zweifel. Über das Wie herrscht jedoch große Uneinigkeit - und auch Ratlosigkeit. Forscher und Ökonomen arbeiten seit Jahren an neuen Bemessungsgrößen. Die Vereinten Nationen bringen das System der Sustainable Development Goals (SDG) mit 17 nachhaltigen Entwicklungszielen ins Spiel. Die OECD, die Organisation westlicher Industriestaaten, schlägt den "Better Life Index" vor. Daneben gibt es viele weitere unterschiedliche Ansätze, um die Wirtschaftsleistung neu zu bewerten.

Eine einfache und schnelle Lösung ist nicht Sicht - das wäre wohl auch zu viel erwartet, dafür ist das Problem zu komplex. Trotzdem muss etwas passieren. Eine pragmatische Lösung wäre es, neben dem BIP weitere Kennzahlen einzuführen, die ökologische, soziale Fortschritte und das Erreichen von Klimazielen einer Volkswirtschaft messen. Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber ein Anfang wäre zumindest gemacht.

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