Sieben Sessel stehen im Kreis, mit dunkelroten Polstern und einem eckigen Steuermodul, das in die Lehne eingelassen ist. Der Raum wirkt wie eine Kommandozentrale aus einer Science-Fiction-Serie, doch er ist echt. Und er erzählt von dem Moment, als die Vision eines automatisierten Staates schon einmal ganz nah an der Umsetzung war: Mit dem Projekt "Cybersyn" sollten Anfang der 1970er-Jahre in Chile Computer den staatlichen Alltag organisieren, zum Beispiel Fabriken kontrollieren und Lieferketten anpassen. Doch es wurde nie vollständig umgesetzt.
Cybersyn könnte nur eine unterhaltsame Episode aus der Geschichte der Planwirtschaft sein. Die Realität ist aber: Wir leben längst im Zeitalter der Automatisierung - und das gilt auch für die öffentliche Verwaltung. In den USA nutzt die Justiz automatisierte Systeme in der Strafverfolgung, in China vermessen und kontrollieren die Behörden ihre Bürger immer strenger digital. Auch in Deutschland setzen staatliche Verwaltungen bereits zum Teil automatisierte Systeme ein - oder es gibt entsprechende Pläne. Doch welchen Einfluss hat das auf eine demokratische Gesellschaft? An dieser Frage wird sich in Zukunft das Verhältnis zwischen Bürgern und staatlichen Institutionen entscheiden. Es ist eine Frage des Vertrauens. Bevor der automatisierte Staat noch mehr Einfluss auf das Privatleben der Bürger nimmt, muss er sich klare Regeln geben.
Seit mehr als 150 Jahren gibt es in Deutschland die amtliche Statistik, die diverse Dinge misst und auswertet. Doch über die Jahre hat sich etwas verändert: Anfangs dienten die erhobenen Daten zu sozialen Strukturen, angemeldeten Fahrzeugen, der Anzahl Arbeitsloser noch hauptsächlich als Entscheidungsgrundlage für die Regierung und zur Orientierung der Bürger. Die individuellen Daten, also zum Beispiel die Steuererklärung, die Job-Historie, die Fingerabdrücke eines Menschen, wurden getrennt von dieser amtlichen Statistik gesammelt und verwahrt.
In Umfragen lehnen die meisten Bürger den Einsatz künstlicher Intelligenz ab
Mit der Algorithmisierung werden diese beiden Säulen staatlicher Datensammlung stärker miteinander verknüpft. Das ermöglicht eine immer genauere Einordnung jedes einzelnen Bürgers durch den Staat: Wie steht er im Vergleich zur restlichen Gesellschaft da? In Österreich ließ der Arbeitsmarktservice (AMS), vergleichbar mit der deutschen Bundesagentur für Arbeit, einen Algorithmus entwickeln, der die Chancen von Arbeitslosen auf einen neuen Job bewerten soll. Das Programm nutzt persönliche Daten wie die Ausbildung, das bisherige Arbeitsleben, Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Der Algorithmus berechnet dann auf Basis allgemeiner Arbeitsmarktdaten einen sogenannten "Integrations-Chancenwert", eine Prozentzahl. Die soll Auskunft darüber geben, wie gut die Aussichten dieses Menschen auf eine neue Stelle sind und wie er oder sie gefördert werden soll.
In repräsentativen Umfragen des Fraunhofer Instituts FOKUS lehnten es 67 Prozent der Befragten in Deutschland ab, dass eine künstliche Intelligenz (KI) über ihren Arbeitslosengeld-Antrag entscheidet. Acht von zehn Befragten fühlten sich bei Fehlern durch automatisierte Entscheidungen wehrloser, als wenn ein Beamter Fehler macht. Etwa die Hälfte der Befragten bezweifelte, dass die staatliche Verwaltung verantwortungsvoll mit ihren Daten umgeht und zum Beispiel Datenschutz-Regeln und Vorschriften zur IT-Sicherheit beachtet.
Einer der wichtigsten Faktoren für die Akzeptanz automatisierter Systeme ist der Mensch. Der Berater im Jobcenter ist ein lebendiges Symbol des Verantwortungsbewusstseins und der vermeintlich persönlichen Nähe zwischen Staat und Bürgern. Doch auch er handelt meist in einem klar definierten Rahmen, wie bei einem Algorithmus durchläuft er einen Katalog an Kriterien, die er abfragt und mit anderen Daten abgleicht. Liefe der gleiche Prozess automatisiert ab, mit einer Software, und diese käme zu exakt dem gleichen Ergebnis - der Bürger würde eine negative Entscheidung dennoch wesentlich schlechter aufnehmen. Gegenüber einer Software erkennt er viel stärker seine eigene Ohnmacht, meint die Kälte des Algorithmus zu spüren. Dabei spürt er eigentlich nur die Kälte der Bürokratie, deren Regeln er sich unterwerfen muss.
Menschen sind sehr konsequent darin, ihre eigene Spezies zu überschätzen. Besonders anschaulich wird das in der Medizin, wo Programme bei der Erkennung bestimmter Krankheiten deutlich bessere Trefferquoten haben als Ärzte. Trotzdem würden viele Patienten ihre Daten lieber von einem Menschen analysieren lassen. Wenn der Staat also in Zukunft mehr automatisiert, dann muss er sicherstellen, das Vertrauen der Bürger zu erhalten. Jeder kleine Schritt in Richtung Automatisierung könnte auch ein Schritt zur Entfremdung zwischen seinen Institutionen und den Bürgern sein.
Weltweit arbeiten Wissenschaftler an Gütekriterien für den Einsatz von Algorithmen durch den Staat, in Deutschland etwa im Projekt Algorithmenethik von der Bertelsmann Stiftung. Am Fraunhofer-Institut FOKUS beschäftigen sich Forscher mit der Frage, wie IT in der öffentlichen Verwaltung effizient und im Sinne des Allgemeinwohls eingesetzt werden kann. Die Wissenschaftler sind sich in zwei Dingen einig: Dass mehr Automation durchaus sinnvoll sein kann, weil sie eine Verwaltung effizienter machen kann. Und dass für die Umsetzung dieser Automatisierung allgemeingültige und verbindliche Regeln nötig sind.