Baustoffe:Außer Kontrolle

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Gesundes Bauen ist gar nicht so einfach. Das bisher obligatorische Qualitätssiegel für Materialien gibt es nicht mehr.

Von Ingrid Weidner

In frisch renovierten Wohnungen riecht es oft unangenehm nach Lösungsmitteln. Nur hartnäckiges Lüften hilft. Doch längst nicht immer lässt sich das Problem mit einem offenen Fenster lösen. Klagen Bewohner oder Nutzer eines Gebäudes über tränende Augen, Atemwegserkrankungen oder Übelkeit, kann das an zu stark belasteten Baustoffen liegen. Das kann auch passieren, wenn Bauherren ökologische Materialien verwendet haben.

Bisher konnten Verbraucher davon ausgehen, dass bestimmte Baustoffe auf Gesundheits- und Umweltverträglichkeit überprüft wurden. Zuständig dafür war das Deutsche Institut für Bautechnik (DIBT) in Berlin, das Zulassungen für Bauprodukte erteilt. Wurde ein Bauprodukt auf seine Gesundheits- und Umweltverträglichkeit geprüft, bewertet und zugelassen, musste es der Hersteller mit einem Ü-Zeichen (Übereinstimmungszeichen) versehen. Nur mit diesem Siegel gekennzeichnete Produkte gelangten in den Handel. Die Prüfungen musste der Hersteller von unabhängigen Prüfinstituten durchführen lassen. Doch mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH-Urteil C-100/13) ändert sich das.

Geklagt hatte die Europäische Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die Begründung: Das nationale Prüfzeichen schränke den freien Handel von Waren ein. Ein Mitgliedsland, in diesem Fall Deutschland, dürfe Hersteller nicht verpflichten, Produkte zusätzlich darauf überprüfen zu lassen, ob sie Gesundheit oder Umwelt schädigen. Nur das CE-Zeichen (Communauté Européenne) ist für innerhalb der EU gehandelte Waren verpflichtend. Doch mit "CE" gekennzeichnete Bauprodukte werden weder auf Gesundheits- noch Umweltverträglichkeit überprüft.

Wird mit dem EuGH-Urteil dem freien Handel Vorrang vor dem Gesundheitsschutz eingeräumt? In der 13-seitigen Urteilsbegründung steht zwar nicht, welcher Lobbyverband die Europäische Kommission davon überzeugt hat, eine Klage anzustrengen, doch es gab immer wieder Beschwerden von Bauproduktherstellern, denen die genaue Prüfung und Zulassung in Deutschland lästig war. Das Urteil vom 16. Oktober 2014 sah eine zweijährige Übergangsfrist vor, die am 15. Oktober 2016 endete.

Was hat sich geändert? Hersteller können ihre Baustoffe freiwillig testen lassen und eigene Prüfsiegel vergeben. Was wer wie testet und ob die Hersteller lieber mehr Geld ins Marketing und weniger in die Qualitätskontrolle investieren, bleibt ihnen überlassen. "Bislang hatte der Verbraucher mit dem staatlichen Ü-Zeichen eine Produktmarkierung, auf die er sich unbesehen verlassen konnte", sagt Wolfgang Misch, Chemiker am DIBT. Mit der Öffnung des Systems für beliebige private Zeichen und Bewertungen müsse der Nutzer zukünftig selbst herausfinden, welche Zeichen zuverlässig seien. "Was einer vertieften Sachkenntnis bedarf und damit zusätzlich Zeit und Geld kostet", sagt Misch. Auch das Umweltbundesamt (UBA) in Dessau sieht die Änderungen kritisch und fordert eine geprüfte Informationspflicht der Hersteller. Zwar strebt auch die EU Normen für Inhaltsstoffe an, die Gesundheit und Umwelt gefährden, doch bis diese Grenzwerte europaweit abgestimmt sind, vergehen nach Schätzung des UBA mindestens fünf bis zehn Jahre. Lediglich der Blaue Engel bleibt damit als Umwelt-Qualitätssiegel erhalten.

"Die Marketing-Sprache der Baustoffindustrie verwendet Begriffe wie nachhaltiges, biologisches oder ökologisches Bauen inflationär und oft ohne transparenten Qualitätsnachweis", sagt Peter Bachmann, Geschäftsführer des Sentinel-Haus-Instituts in Freiburg. Bachmann beschäftigt sich seit 20 Jahren mit den Themen Bauen und Gesundheit. Vor zehn Jahren gründete er ein eigenes Institut. In seiner Datenbank können sich Bauherren und Firmen informieren, ob die Inhaltsstoffe der ausgewählten Wandfarbe, Bodenbeläge oder das Silikon für die Fugen im Bad gesundheitlich unbedenklich sind. Es schadet also nicht, seine Chemiekenntnisse aufzufrischen, das Kleingedruckte zu lesen und unabhängige Datenbanken zu durchforsten. Bedenken, dass es für den privaten Bauherrn teurer wird, zerstreut Peter Bachmann vom Sentinel-Haus-Institut. "Wer Baustoffe verwendet, die nicht gefährlich für die Gesundheit sind, muss mit ein paar Hundert Euro Mehrkosten bei einem Einfamilienhaus rechnen."

Bachmann sieht Bauherren, Wohnungsbauunternehmen, Kirchen und kommunale Auftraggeber in der Pflicht. Wenn sie in ihren Ausschreibungen für Kitas, Schulen und Wohnungen Grenzwerte für Schadstoffe wie Lösungsmittel, Formaldehyd, Radon oder CO₂ festlegen und gesundheitlich unbedenkliche Baustoffe fordern, setzen sie damit Maßstäbe für die Qualität der Bauwerke. "Gesundheitsgeprüfte Baustoffe sind für alle bezahlbar, auch im sozialen Wohnungsbau", sagt Bachmann. Seine Datenbank liefert Informationen zu etwa 4000 Baustoffen und Produkten, weitere kommen durch die Beratung mit dem TÜV Rheinland hinzu. Auch Architekten und Handwerker sollten in ihrem eigenen Interesse darauf achten, nur unbedenkliche Baustoffe zu verarbeiten. "Die Hersteller wälzen das Haftungsrisiko oft auf Bauherren, Handwerker und Architekten ab. Klagen die Bewohner über gesundheitliche Beschwerden und stehen dadurch umfangreiche Sanierungen an, haften nicht die Hersteller, sondern meistens diejenigen, die für Planung und Bau verantwortlich sind", sagt Bachmann.

© SZ vom 17.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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