VW-Chef Herbert Diess:Defeat Device - "Dieser Begriff war mir unbekannt"

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"Anständiger" soll VW werden: Das hat Herbert Diess als Leitfaden genannt. (Foto: dpa)

Auch der neue VW-Chef Herbert Diess ist im Diesel-Skandal nicht über jeden Verdacht erhaben. Als er in Wolfsburg anfing, wurden die Verstöße bekannt. Hätte er durchgreifen können?

Von Thomas Fromm, Max Hägler und Klaus Ott, München

Es ist eine der zentralen Fragen im Dieselskandal: Wann muss ein Vorstand eigentlich erkennen, dass im eigenen Unternehmen Betrüger sitzen? Es ist die Frage, die für Herbert Diess unangenehm werden könnte. Der Automanager ist im Frühjahr zum VW-Konzernchef befördert worden, und immer noch versucht die Staatsanwaltschaft zu klären, ob er in die Affäre verwickelt ist. Bremste er, der sich als "Aufräumer" gibt, einst intern bei der Aufarbeitung der Diesel-Manipulationen? Oder wurde er hinters Licht geführt? Noch haben die Ermittler nicht entschieden, ob sie Diess anklagen. Klar ist nur: Schonfrist hatte der Manager keine, als er vor drei Jahren zu Volkswagen kam.

Gerade mal drei Wochen war Diess bei VW in Wolfsburg, damals zuständig für die Marke VW, als ihn ein Hinweis auf jene Unstimmigkeiten bei Dieselmotoren erreichte, die sich später zum größten deutschen Industrieskandal ausweiten würden. Am 21. Juli 2015 erhielt der von BMW abgeworbene Manager eine Übersicht über Probleme, bei denen es mal um die Sicherheit der Fahrzeuge, um viel Geld oder um das Image ging. Oder um alles. In China verlangten die Behörden bei bestimmten Modellen eine "bessere Lösung" für Hinterachsen, die brechen könnten. Andere Kunden klagten über eine "hakelige, schwergängige Lenkung". Es folgten weitere Sachverhalte aus weiteren Ländern.

Jahrelanger, systematischer Betrug

Die zweiseitige Notiz sollte Diess, der ja neu war im Vorstand, mit den Gepflogenheiten in Wolfsburg vertraut machen. Wie man mit Problemen umgehe. Als vorletzter von zwölf Punkten waren Dieselautos in den USA genannt: Die dortigen Behörden wollten neuen Modellen die Zulassung verweigern, nachdem bei älteren Autos im Straßenverkehr ein 15 Mal höherer Abgaswert gemessen worden war als bei Prüfstandstests. Ein Thema von vielen, Alltag im Autokonzern, so konnte man das lesen.

Zwei Monate später hatte es mit dem Alltag ein Ende. US-Behörden enthüllten jahrelangen, systematischen Betrug bei rund einer halben Million Dieselfahrzeugen mit manipulierter Abgasreinigung. Volkswagen musste mehr als 20 Milliarden Dollar Strafen und Schadenersatz in den USA zahlen. In Europa laufen zahlreiche Prozesse, Staatsanwälte ermitteln, und Rupert Stadler sitzt in Untersuchungshaft. Der beurlaubte Chef der VW-Tochter Audi ist einer von zehn heutigen und früheren Vorstandsmitgliedern, die von deutschen Behörden teils schwerer Vergehen beschuldigt werden. An der Spitze dieser Managerriege steht Diess, den der Aufsichtsrat im April zum Konzernchef berufen hat. Und der als Losung ausgegeben hat: VW müsse "ehrlicher, offener, wahrhaftiger, in einem Wort: anständiger" werden.

Ein heikler Job. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig verdächtigt Diess und andere, im Sommer 2015 die VW-Aktionäre nicht oder nicht rechtzeitig über mögliche finanzielle Folgen der Abgasvergehen unterrichtet und somit den Börsenkurs des Autokonzerns manipuliert zu haben. Diess und seine beiden Mitbeschuldigten, Ex- Vorstandschef Martin Winterkorn und Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch, bestreiten das. Ein Ende des Verfahrens ist noch nicht absehbar.

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Die Kernfrage bei Diess lautet: Was hatte der neue Vorstand in Wolfsburg, der sich um die Kernmarke VW kümmerte, in jenem Sommer 2015 über die Vorgänge in den USA erfahren? Genug, um Alarm zu schlagen und die Aktionäre zu warnen? Zu wenig, um aktiv zu werden? Öffentlich hat sich Diess dazu bislang nicht im Detail geäußert. Und bei der Staatsanwaltschaft in Braunschweig ausgesagt hat er bislang auch nicht. Aber er hat der Kanzlei Jones Day, die im Auftrag des Konzerns die Affäre untersucht, seine Sicht erzählt. Und die lautet: Er habe nicht gesehen, dass da etwas anbrennen könne. Er sei deshalb im August 2015 relativ entspannt in Urlaub gefahren. Er habe sich danach, als das US-Thema immer noch nicht gelöst war, schon Sorgen gemacht. Aber nicht so viele Sorgen wie bei den Hinterachsen in China. Nur die seien ihm, angesichts von möglicherweise zehn Millionen betroffenen Autos, im Urlaub im Kopf geblieben.

In den Notizen, die VW-Leute damals für die Konzernspitze anfertigten, war das Diesel-Malheur in den USA immer nur eines von mehreren Problemen. Nichts Besonderes. Andererseits haben VW-Ingenieure mit Aussagen bei der Staatsanwaltschaft vor allem Winterkorn, aber auch Diess belastet. Man habe ab Ende Juli 2015 im kleinen Kreis offen darüber gesprochen, dass es nicht um übliche Überschreitungen von Abgasgrenzwerten gehe. Sondern um Manipulationen mit einer verbotenen Software, um ein "Defeat Device" also. Wurde damals Klartext geredet, aber auf dem Papier verharmlost? Oder versuchen Untergebene, um sich selbst zu entlasten, das den Oberen in die Schuhe zu schieben?

Ob die Staatsanwaltschaft Braunschweig das Verfahren gegen Diess einstellt, oder Anklage erhebt, ob es gar zum Prozess kommt: alles offen. Sicher scheint nur: Selbst wenn Diess vor Gericht müsste, stünde er weiter an der Spitze des Autokonzerns - sofern die Ermittlungsakten keine eindeutigen Schuldnachweise enthalten. Entsprechende Signale gibt es aus dem Umfeld der Familien Porsche und Piëch, der Hauptaktionäre von VW.

Für Diess könnte vor allem ein Treffen am 27. Juli 2015 kritisch werden. Ein paar Tage nachdem er auf zwei Seiten die Konzernprobleme lesen konnte, kam da der sogenannte Schadenstisch zusammen. Eine Runde von Ingenieuren und Juristen, die mit Winterkorn, intern "Wiko" genannt, und anderen Managern Probleme besprachen und Lösungen erörterten. Diess war erstmals in dieser Runde mit dabei. Und erlebte, wie sich Wiko in Details wie beispielsweise einen gerissenen Zylinderkopf vertiefte. Dann folgte Ungewöhnliches. Der Schadenstisch war eigentlich schon vorbei, als Wiko-Vertraute die hohen Abgaswerte bei Dieselautos in den USA ansprachen. Offenbar in kleinerem Kreis, in einem Nebenraum, mit dem Hinweis, da gebe es noch etwas. Unstreitig ist wohl, dass über Stickoxidwerte weit jenseits der Vorschriften gesprochen wurde. Volkswagen sei beim Schadstoffausstoß "nicht gesetzeskonform", kam bei Diess an, laut dessen Angaben bei Jones Day. Mehr aber nicht.

Ein anderer Teilnehmer der Runde, ein Ingenieur, hat bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig anderes ausgesagt: Wiko und Diess seien darüber informiert worden, dass US-Behörden stark abweichende Werte gemessen hätten. Diess habe dann sogar selbst den Begriff "Defeat Device" verwendet. Und gesagt, VW solle mit den US-Behörden reden, nicht im Sinne einer Offenlegung, aber um zu einer Lösung zu kommen. So der Ingenieur. Die Angaben von Diess bei Jones Day widersprechen dem. Von einem Defeat Device sei beim Schadenstisch "sicher nicht" die Rede gewesen. "Dieser Begriff war mir unbekannt." Er, Diess, habe die Kollegen an jenem 27. Juli gefragt, ob es eine Lösung des Problems gebe und ob das mit den US-Behörden geklärt werde. Das sei bejaht worden. Damit sei das Thema für ihn erst einmal erledigt gewesen.

"Mein Gott, dauert das"

Nach dem Urlaub war aber immer noch nichts erledigt, woraufhin er sich dann eingeschaltet habe, wie Diess den Anwälten berichtete. Er habe sich gedacht, "mein Gott, dauert das". Er habe Druck gemacht, dass VW mit den US-Behörden eine Lösung finde. Er habe angeboten, selbst aktiv zu werden. Die Rückmeldungen im Konzern seien beruhigend gewesen, und Winterkorn habe sich sowieso gekümmert. Überhöhte Abgaswerte seien auch nichts Besonderes gewesen: Den Unterschied zwischen Prüfstand und Straße habe es immer schon gegeben, wegen der unterschiedlichen Fahrweisen. Das habe ihn weniger irritiert. Er, Diess, habe sich stets mehr gesorgt, wenn es um die Sicherheit der Fahrzeuge gegangen sei. Da gehe es sofort um hohe Schadenersatzbeträge. So die Darstellung von Diess.

Andere Beschuldigte aus dem mittleren Management bei Volkswagen haben bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, im August und September 2015 habe sich die Lage immer weiter zugespitzt bei Volkswagen. Der Chefjurist von VW habe sich beklagt, dass er in Sachen Diesel bei Pötsch, Winterkorn und Diess kein Gehör finde. Bei einer Sondersitzung am 24. August, bei der aber offenbar kein Vorstand dabei war, sei die Lage eindringlich geschildert worden: VW müsse intern untersuchen, wer Bescheid gewusst habe; müsse die Aktionäre informieren und Rückstellungen bilden. Ein in die Abgasmanipulationen verwickelter Ingenieur will sich mit einem weiteren Kollegen im August mit Diess nach dessen Urlaub in dessen Büro über das "Defeat Device" unterhalten haben. Diess habe dabei gesagt, bei BMW - seinem früheren Arbeitgeber - hätten sie so etwas nicht gemacht.

Diess hat das im Gespräch mit Jones Day ganz anders dargestellt. Von den Betrügereien und Manipulationen habe er erst am 18. September 2015 erfahren, durch die damalige Veröffentlichung der US-Behörden, so sagt er. Von denen, die bei Volkswagen davon gewusst hätten, habe ihm niemand reinen Wein eingeschenkt. Er habe keine Ahnung gehabt, dass die US-Behörden jahrelang hinters Licht geführt worden seien. Er habe auch keinen Anlass für Misstrauen gehabt, da er die betreffenden Personen bei VW ja erst kurz gekannt und sie für vertrauenswürdig gehalten habe. Und mit seinem Wissensstand von damals habe es für ihn auch keinen Grund gegeben, mit einer Ad-hoc-Meldung an die Börse zu gehen. Aus seiner Sicht sei das ja nur ein übliches Problem gewesen, eines von vielen. Nichts Dramatisches eben.

Im Konzern heißt es, wenn Diess an den Sommer 2015 zurückdenke, dann frage er sich: "Würde ich das heute genauso wieder machen?" Diess gebe sich dann selbst folgende Antwort: "Ich finde keinen Punkt, an dem ich anders gehandelt hätte." Und aus Teilen des Aufsichtsrates ist zu hören, man glaube im Moment der Version von Diess, die sei "plausibel".

Nun kommt es auf die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft an. Werden diese eher für oder gegen den neuen Vorstandschef von Volkswagen sprechen? Das wird sich zeigen.

© SZ vom 13.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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