Lehrstellen:Corona reißt historisches Loch bei Ausbildungen

Lesezeit: 3 min

Ob Industrieelektrikerin oder IT-Fachmann: Fachkräfte sind gefragt. (Foto: Rupert Oberhäuser via www.imago-images.de/imago images/Rupert Oberhäuser)

So dramatisch wie 2020 ist die Zahl der Azubi-Verträge noch nie eingebrochen. Experten warnen vor dramatischen Folgen: für junge Menschen, für die ganze Volkswirtschaft - und sogar im Kampf gegen den Klimawandel.

Von Alexander Hagelüken

Die Mitgliederversammlung von Südwestmetall war fast vorbei, Stargast Armin Laschet längst verabschiedet. Vor dem Saal lockten Fingerfood und Weißwein, doch Stefan Wolf ließ die Anwesenden noch nicht raus. Emotional wandte sich der Präsident der Metallarbeitgeber Mitte Juli an die versammelten Unternehmer: "Wenn wir anfangen, an der Ausbildung junger Menschen zu sparen, schadet das. Ich appelliere an Sie, die Ausbildungsplätze zu halten oder vielleicht zwei, drei draufzulegen. Sie werden es nicht bereuen!"

Die Corona-Krise verursachte einen einzigartigen Rückgang: 2020 wurden mehr als neun Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen, das sind fast 48 000 Verträge, meldet das Statistische Bundesamt. So einen Rückgang gab es seit 1977, seit die Daten erfasst werden, noch nie.

Auch für das neue Ausbildungsjahr bieten die Firmen bisher 14 000 weniger Lehrstellen an als im Vorjahr. Monatelang dichtgemachte Friseure, Hotels oder Geschäfte halten sich zurück. Es klingt aber insgesamt wie ein Warnsignal: Hinterlässt die Krise junge Menschen ohne Ausbildung und Fachkräftemangel?

Endlich kommen wieder Kunden: eine Auszubildende in einem Hamburger Friseurladen. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Wer dem Chef der Bundesagentur für Arbeit zuhört, merkt schnell, dass das Problem mehrere Facetten hat. Detlef Scheele appellierte Anfang Juli an Schulabgänger, nach Ausbildung zu suchen, statt präventiv ein Überbrückungsjahr anzusteuern. Noch mehr als an Plätzen fehlt es an Bewerbern: Seit Oktober meldeten sich 35 000 weniger als ein Jahr zuvor. So registrieren die bayerischen Metallarbeitgeber weit mehr offene Stellen als Kandidaten. "Es ist ein echter Bewerbermarkt, trotz Corona", urteilt Geschäftsführer Bertram Brossardt.

Weniger Bewerber? Friedrich Hubert Esser sieht dafür mehrere Gründe. Im Lockdown gab es weniger persönliche Beratung in Schulen und Jobagenturen, weniger Ausbildungsmessen und Praktika, berichtet der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Dadurch sehen manche Schulabgänger ihre Möglichkeiten nicht. "Und die jungen Leute sind wie ihre Eltern wegen der Corona-Krise verunsichert: Wie sicher ist so ein Ausbildungsplatz?"

Manuela Conte, Jugendsekretärin des Deutschen Gewerkschaftsbunds, ruft nicht nur die Firmen auf, freie Plätze nachzumelden. Sie wendet sich auch an die Schulabgänger: "Informiert euch bei Arbeitsagenturen, Online-Stellenbörsen oder Unternehmen in der Nachbarschaft - trotz Corona bilden viele Betriebe aus."

Als Jobagenturen-Chef Detlef Scheele Ende Juli erneut auf die Ausbildungszahlen blickt, hat sich die Lage verbessert: 30 000 weniger unversorgte Bewerberinnen und Bewerber als einen Monat zuvor. Aber immer noch 130 000 junge Bürger sind auf der Suche. Scheele hofft weiter, dass sich Corona-Narben bei der Ausbildung weitgehend vermeiden lassen. Aus Erfahrung weiß er, dass im August und September viel passiert. Firmen stellen noch ein, junge Menschen finden noch was. Es wird auch davon abhängen, ob die vierte Pandemie-Welle neue Einschränkungen bringt, die Restaurants und andere Ausbilder treffen.

Ein Foto aus Vor-Corona-Zeiten: 1,5 Meter Abstand kann man nicht einhalten, wenn man zusammen sägt. (Foto: Imago)

So bleibt die Gefahr, dass die Corona-Krise die duale Ausbildung weiter schwächt, die ohnehin seit Längerem durch zwei Trends angegriffen wird: Die Bevölkerung schrumpft, und die Neigung nimmt zu, lieber zu studieren, als in die Lehre zu gehen. "Die Demografie schlägt zu, das wird jedes Jahr sichtbarer", beobachtet Bertram Brossardt von den bayerischen Metallarbeitgebern. "Und immer mehr Schüler studieren oder gehen auf Fachschulen etwa für Pflege." Diese Trends hätten Nachteile für die deutsche Volkswirtschaft, "weil industrielle Fertigungskompetenz und Handwerk zu unseren Stärken gehören", sagt er. "Ohne starke duale Ausbildung wird unser Standort schwächer."

Im Kampf gegen den Klimawandel braucht Deutschland gut ausgebildete Anlagenmechaniker

Während manche Berufe überlaufen sind, zeigt sich bei anderen der Mangel deutlich: 2020 blieb fast jeder zweite angebotene Ausbildungsplatz für Fleischerinnen und Lebensmittelfachverkäufer unbesetzt. Auch nach Klempnerinnen, Betonbauern oder Restaurantfachfrauen suchten Betriebe oft vergeblich.

Ein Fachkräftemangel hat Folgen, die bisher oft übersehen werden, warnt Esser vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Zum Beispiel für den Klimaschutz. "Anlagenmechaniker sind künftig nicht nur dafür zuständig, Badezimmer einzurichten, sondern auch, das Haus energiefreundlich auszustatten", sagt er. "Doch Gymnasiasten fühlen sich von so einem Beruf nicht angesprochen. Und Hauptschüler sind darin schwieriger auszubilden, weil die Anforderungen so gestiegen sind."

Esser fordert mehr Wertschätzung für Ausbildungsberufe, damit die Deutschen umdenken. Wie in Österreich oder der Schweiz will er gesetzlich festschreiben, dass Meister von der Qualifikation einem Bachelor gleichwertig sind. Wer sich nach einer Ausbildung selbständig mache, begegne als Unternehmer zu viel Bürokratie. Und Kleinbetriebe bräuchten mehr Unterstützung darin, Ausbildungsplätze anzubieten.

Der bayerische Metallarbeitgeber Bertram Brossardt will die Ausbildung durch Zusatzmodule aufwerten, um sie für leistungsstarke Jugendliche attraktiver zu machen, die vielleicht sonst an die Hochschule streben. Gleichzeitig schlägt er bessere Chancen für leistungsschwächere Jugendliche und Geflüchtete und mehr Teilhabe-Chancen für Menschen mit Behinderung vor. Er blickt auch in die Zukunft: "Am allerwichtigsten ist es, die hohe Qualität der Ausbildung zu sichern. Berufe müssen weiterentwickelt und neu strukturiert werden."

Brossardt hat bei allen Herausforderungen auch positive Nachrichten. Nächstes Jahr erwartet er in seinen Branchen drei Prozent mehr Ausbildungsverträge. Schulabgänger, die sich um die Sicherheit einer Ausbildung sorgen, kann er beruhigen: Dieses Jahr hatten 90 Prozent der Betriebe für ihre Azubis nach der Ausbildung eine Stelle - mitten in der Corona-Krise.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: