Streik bei Amazon:Es wäre okay, wenn mal ein paar Geschenke nicht rechtzeitig ankommen

Lesezeit: 2 min

Streikende Mitarbeiter vor einem Amazon-Warenhaus in Leipzig im Dezember 2021. (Foto: Jens Schlueter/Getty Images)

Verdi bestreikt Amazon, große Konsequenzen hat das wohl nicht. Wichtiger wäre sowieso, wenn die Gewerkschaft sich um bedeutendere Themen im Einzelhandel kümmern würde.

Kommentar von Michael Kläsgen

Dieses Jahr grüßt das Murmeltier schon ein wenig resoluter. Verdi ruft kurz vor Weihnachten nicht nur zum Streik bei Amazon auf, um auf die schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Diesmal will die Gewerkschaft das Weihnachtsgeschäft des weltweit größten Onlinehändlers "empfindlich stören". Es wäre wünschenswert, wenn ihr das gelänge.

Denn wenn mal ein Geschenk nicht rechtzeitig ankäme, würde vielleicht der ein oder andere Amazon-Kunde über diesen irrsinnig erfolgreichen Konzern mal kurz nachdenken - und sich fragen, warum er so erfolgreich ist und auf wessen Kosten das geht. Aber wir geraten ins Träumen. Dazu wird es nicht kommen.

Schon vor Jahren spottete der damalige Amazon-Deutschlandchef so herablassend wie wahr über die Streikaufrufe Verdis: Glatteis wäre für Amazon vor Weihnachten viel schlimmer als der Streik von ein paar Beschäftigten. Und das gilt noch heute. Da es im Moment nicht nach Glatteis in Deutschland aussieht, muss also niemand um seine Päckchen fürchten. Die Maschine Amazon ist von vielen Seiten so gesichert, dass sie läuft und läuft.

Und das Murmeltier Verdi? Hat mal wieder gegrüßt. Bis zum nächsten Jahr dann.

Der Streikaufruf droht zum vorweihnachtlichen Ritual zu werden. Leider. Es wäre schade, wenn es einfach nur bei den verhärteten Positionen der beiden Widersacher bliebe. Einerseits Verdi, die Gewerkschaft, für die Amazon ein unsozialer Konzern ist, der Milliardengewinne scheffelt, sich aber weigert, seinen Beschäftigten etwas davon abzugeben, etwa in Form einer Entlohnung entsprechend dem Einzelhandelstarif für Mitarbeiter in der Logistik.

Das Problem geht über Amazon hinaus. Viele Händler zahlen zu niedrige Löhne

Andererseits Amazon, der Konzern, aus dessen Sicht alles in bester Ordnung ist und der vorrechnen kann, wie gut er all seine Beschäftigten bezahlt: Einstiegslohn von zwölf Euro, plus umfangreiche Zusatzleistungen und Karrierechancen. Kein anderer Einzelhändler hat so viele Mitarbeiter in den vergangenen Jahren eingestellt wie er: 23 000 Menschen arbeiten inzwischen in Deutschland für den Onlineversandhändler.

So weit, so konfrontativ. Dabei gäbe es jetzt ein Momentum, etwas zu bewegen. Deutschland hat eine neue Regierung und der neue Amazon-Deutschlandchef Rocco Bräuniger hat erklärt, den Konzern zum "besten Arbeitgeber" machen zu wollen. Man sollte ihn beim Wort nehmen. Er kann sich dabei nicht allein auf das Votum einiger Mitarbeiter berufen. Glaubwürdig wird er das Ziel nur erreichen können, wenn auch die Gewerkschaft ihm beipflichtet.

Um den Weg dahin zu ebnen, müssten Amazon und Verdi aber ihren Dauerzwist beenden und der Konflikt müsste auf eine andere Ebene gehoben werden: auf die oberste politische Ebene mit Regierung und Arbeitgeberverbänden. Dann ginge es im Kleinen zum Beispiel um die Frage, warum Amazon dem Handelsverband Deutschland beitreten kann, sich selbst also als Einzelhändler sieht, seine Löhne aber weiter an der Logistikbranche ausrichten darf.

Im Großen ginge es darum, wie Dumpinglöhne und Tarifflucht im Einzelhandel generell vermieden werden können. Abgesehen von Paketdienstleistern oder Lieferdiensten wird der Ausstieg aus dem Tarifvertrag wohl nirgends so sehr als Wettbewerbsvorteil genutzt wie im Einzelhandel. Teilweise liegen die Löhne in den nicht tarifgebundenen Unternehmen um bis zu 30 Prozent unterhalb des Tariflohnniveaus. Das Risiko, im Alter ein Leben in Armut zu fristen, ist für Beschäftigte des Einzelhandels besonders groß.

Ein probates Mittel dagegen wäre es, wenn der Gesetzgeber Tarifverträge als allgemein verbindlich erklären würde, möglichst ohne Schlupflöcher zu lassen. Selbst so mancher große Lebensmitteldiscounter wäre dafür, weil dann Waffengleichheit unter den Unternehmen herrschte.

Vor allem wäre dann viel für einen Großteil der etwa drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel getan, nicht nur exklusiv für Amazon-Mitarbeiter. Sondern zum Beispiel auch für zahlreiche Verkäuferinnen, die in Teilzeit arbeiten und dazu beitragen, eine Familie zu ernähren, aber keine Lobby haben. Sie erhielten zu Beginn der Corona-Pandemie zwar viel Applaus, aber wirklich verbessert hat sich an ihrer finanziellen Situation bislang so gut wie nichts. Hieran könnte sich das Murmeltier auch mal festbeißen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: