Alte Bahnhöfe:Das deutsche Bahnhofsdrama

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Verwahrlost und verdreckt: Die Bahn hat viele Bahnhöfe an Finanzinvestoren verkauft - aber die Gebäude vergammeln trotzdem. Kommunen und Bürger möchten die Stationen oftmals wiederbeleben - doch sie scheitern häufig an der Bürokratie.

Uwe Ritzer und Steffen Uhlmann

Die Luft ist zum Schneiden dick, Mark Karhausen schwitzt, aber er ist zufrieden. Mit so viel Andrang hat der Chef des gleichnamigen Berliner Auktionshauses nicht gerechnet. Der Saal im Tegeler Borsigturm ist bis auf den letzten Platz gefüllt, als der Auktionator das erste Mal den Hammer zückt: "1000 Euro sind geboten." Im Saal sitzen gespannt Anzug- und Jeans-Träger. Was sie gleichermaßen anzieht, sind die 52 ostdeutschen Bahnhöfe, die Karhausen versteigern will.

Der alte Bahnhof von Waldkraiburg im Jahr 2007. (Foto: dpa)

Bahnstationen unterm Hammer - das Auktionshaus macht das nicht zum ersten Mal, doch diesmal sei der Andrang "unerhört", freut sich Karhausen. Die Erklärung für das unerwartet große Interesse liefert der Auktionator gleich mit: "Nach schlechten Erfahrungen mit zu hohen Anfangsgeboten haben wir diesmal den Einstiegspreis bei gerade mal 1000 Euro pro Bahnhof angesetzt. Es sind also jede Menge Schnäppchen im Angebot."

Bahnhöfe als Ramschware.

Dabei sollten sie doch "die Kathedralen des 21. Jahrhunderts" werden. So hatte es der frühere Bahn-Chef Heinz Dürr während der Privatisierung des Staatsbetriebes Mitte der 90er Jahre euphorisch versprochen. In Großstädten sind Bahnhöfe seither immerhin Konsum- und Mobilitätstempel geworden, mit Einkaufspassagen und Trend-Gastronomie. In Stuttgart wird über ein solches Vorhaben bekanntlich heftig gestritten. In der deutschen Provinz aber herrscht die große Tristesse am Gleis.

Hunderte Bahnhöfe in kleineren Städten stehen leer, sind verrammelt, dreckig und verwahrlosen. Wer sie wiederbeleben will, kommt häufig nicht an sie ran. Städte und Gemeinden verheddern sich beim Versuch, ihre Bahnhöfe zu übernehmen, in einem bürokratischen Gestrüpp aus unklaren oder ständigen wechselnden Zuständigkeiten auf Eigentümerseite. Oft geht jahrelang nichts voran. In Weißenburg zum Beispiel.

Sanierung alter Bahnhöfe
:Neues Leben auf dem Abstellgleis

Sie liegen zentral in der Stadt, bieten viel Platz und wunderschöne Architektur. Doch um alte Bahnhöfe in Schuss zu halten, fehlt häufig das Geld. In vielen Städten hat die Bahn die Gebäude an Investoren verkauft, andernorts engagieren sich die Bürger für deren Erhalt. So kehrt in die leeren Wartesäle Leben zurück. Die schönsten Beispiele in Bildern.

Die fränkische Kreisstadt, 40 Schienenminuten südlich von Nürnberg an der Stammstrecke Nürnberg-München gelegen, beherbergt das bayerische Informationszentrum am Unesco-Weltkulturerbe Limes. Ein prächtiger Römerschatz, eine antike Badeanlage und ein mittelalterlicher Stadtkern locken zudem jedes Jahr Tausende Kulturtouristen an.

Sanierung alter Bahnhöfe
:Neues Leben auf dem Abstellgleis

Sie liegen zentral in der Stadt, bieten viel Platz und wunderschöne Architektur. Doch um alte Bahnhöfe in Schuss zu halten, fehlt häufig das Geld. In vielen Städten hat die Bahn die Gebäude an Investoren verkauft, andernorts engagieren sich die Bürger für deren Erhalt. So kehrt in die leeren Wartesäle Leben zurück. Die schönsten Beispiele in Bildern.

Der Bahnhof ist hingegen nicht sehenswert. Das mehrstöckige Sandsteingebäude mit den flachen Seitenflügeln wurde 1869 erbaut. Mehr als 120 Jahre erfüllte es seinen Zweck. Dann begann sein langsamer Verfall. Die Bahn schloss die Frachtabfertigung, besetzte den Fahrkartenschalter immer seltener und schloss ihn letztlich. Das Personal verschwand, Wartesaal und Toiletten wurden zugesperrt. So lief es in vielen deutschen Kleinstädten.

Die Deutsche Bahn (DB) interessiere sich nur noch für die direkte Streckenanbindung, kritisiert Roland Neumann vom Planungsbüro BahnStadt, das auf die Entwicklung kleiner und mittlerer Bahnhöfe spezialisiert ist. Der DB-Beitrag zur Infrastruktur kleinerer Kommunen sei kümmerlich, so Neumann. "Statt Bahnhöfen gibt es vielerorts nur mehr Bahnsteige mit Wetterhäuschen." Weißenburg ist dafür ein Paradebeispiel. An den Bahnsteigen gibt es ab und an Schönheitsreparaturen. Der Rest des Areals vergammelt; am Hauptgebäude blättern Farbreste von morschen Fensterläden.

Der blassblau gekachelte Fußgängertunnel unter den Gleisen stinkt bisweilen wie eine Pissrinne. Es gibt keine Toilette mehr am Bahnhof; die 2000 Menschen, die täglich an- und abfahren, haben bei Regen, Wind oder im Winter keine vernünftige Unterstellmöglichkeit.

Schon mein Vorgänger hat jahrelang vergeblich versucht, den Bahnhof zu kaufen", sagt Jürgen Schröppel, seit 2008 Weißenburger Oberbürgermeister. "Wir wurden hingehalten, mit absurden Nutzungs- und Preisvorstellungen konfrontiert, oder die Ansprechpartner wechselten ständig, und dann begannen die Verhandlungen jedes Mal von vorn."

Das deutsche Bahnhofsdrama ist eine Spätfolge der Privatisierung. Waren Bahnhöfe davor in einer Hand, herrscht nun ein Sammelsurium an Zuständigkeiten. Zig verschiedene DB-Gesellschaften haben an einem Bahnhof das Sagen: Die eine kümmert sich um die Bahnsteige, die andere um das Gleis, eine dritte um die Fahrkartenautomaten. Die eigentlichen Hauptgebäude gehören inzwischen vielerorts einer Heuschrecke.

5400 Bahnhöfe wurden im Zuge der Reform zuerst in die DB Station & Services AG ausgegliedert. "Ein großer Teil der Immobilien ist für den Bahnbetrieb nicht mehr notwendig und oft nicht wirtschaftlich zu betreiben", sagt ein Bahn-Sprecher. Man werde sich dauerhaft auf bundesweit 600 bis 700 Empfangsgebäude konzentrieren, die man noch benötige.

In Ostdeutschland sank allein 2005/2006 die Zahl der Bahnhöfe in diesem "Kernportfolio" der DB von 528 auf ganze 73. Fast 2800 Bahnhöfe wurden bundesweit bereits verkauft, die meisten im Paket. 2001 gingen die ersten 500 an die Firma First Rail Estate. Vier Jahre später war sie pleite. Nun stieg Patron Capital ein, ein britischer Finanzinvestor mit deutschen Partnern, der weitere Bahnhöfe hinzukaufte, zuletzt im Januar 2008. Damals kassierte die DB für 490 Standorte einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag. Aktuell dürften Patron Capital etwa 1000 Bahnhöfe gehören.

Deren deutsche Tochterfirma Main Asset Management ist für sie zuständig. Dort will man sich nicht äußern; SZ-Anfragen blieben unbeantwortet. Man verpflichtete sich beim Kauf, innerhalb von fünf Jahren 15 Millionen Euro in Sanierungen zu investieren. Das ist wenig, und die Folgen sind vielerorts sichtbar. Selbst der DB missfällt das inzwischen. Auch wenn man nicht mehr Eigentümer sei - "vernachlässigte Empfangsgebäude wirken sich negativ auf das Image der Bahn aus", erklärt ein Konzernsprecher. Man versuche, "Einfluss auf die Investoren zu nehmen, die Bahnhöfe so instand zu halten und zu modernisieren, dass sie ansehnliche Immobilien bleiben."

Selber schuld, findet Karl-Peter Naumann, Vorsitzender des Fahrgastverbandes Pro-Bahn. Er beklagt "jahrelanges, eklatantes Versagen" vor allem von Staat und Regierung. "Sie hätten wissen müssen, wohin ein Verkauf an Finanzinvestoren führt, die sich nur für ihren Profit interessieren." Einen Profit zu Lasten der Allgemeinheit.

Wo Bahnhöfe jahrelang leerstehen, nimmt der Vandalismus zu und das Sicherheitsgefühl der Bürger ab. Rüdiger Herzog, Verkehrsexperte der Grünen, beklagt soziale und strukturelle Folgen. "Der Rückzug aus der Fläche hat vor allem in Ostdeutschland Methode", glaubt er. "Schwindende und alternde Bevölkerung, zu wenig Mobilität - voll ausgestattete Bahnhöfe rechnen sich für die Bahn einfach nicht mehr. Also wurden sie Zug um Zug abgestoßen."

Einen Großteil ihrer ostdeutschen Ruinen will Patron Capital nun wieder abstoßen. Auch die 52 ostdeutschen Bahnhöfe, die Mark Karhausen auf seiner Sommerauktion in Berlin versteigert, stammen aus dem Portfolio der Briten. Der Auktionator wird sie alle los. Sie bringen mehr als 300.000 Euro ein. Melitta Boese hat mitgesteigert. Sie ist zwar keine Schnäppchenjägerin, doch sie bietet eifrig, als der Bahnhof Baitz zum Aufruf kommt.

Die Stadt Brück (Brandenburg) hat beschlossen, den Bahnhof ihres Ortsteils Baitz an der Strecke Berlin-Dessau zu erwerben. Melitta Boese ist die Kämmerin der Kommune. "Wer in Baitz aus der Bahn steigt, der fällt förmlich über die heruntergekommene Ruine", sagt sie. Bei 6000 Euro erhält sie den Zuschlag. Viel Geld für den verrotteten Eingeschosser und 2000 Quadratmeter Grund. Nun will die Stadt das Haus abreißen und einen Park-and-Ride-Parkplatz für die Berlin-Pendler bauen.

In Weißenburg möchte man den Wartesaal wieder öffnen, vernünftige Toiletten einbauen, einen Kiosk ansiedeln und die Wohn- und Büroräume in den Obergeschossen renovieren. Dafür müsste Main Asset den Bahnhof aber verkaufen. Die Firma scheint ratlos. "Es ist zynisch, dass Main Asset bei der Stadt nachgefragt hat, was sie mit dem Bahnhof möglichst gewinnbringend anstellen könnten, weil ihnen selbst nichts einfällt," sagt Gerhard Naß. Das Thema nervt den Stadtrat derart, dass er zur Selbsthilfe griff und eine Protestbrief-Aktion startete - die auf große Resonanz stieß. "Hunderte Weißenburger und Pendler haben an Main Asset geschrieben." Bürger demonstrierten sogar vor dem Gebäude.

Wo der Rückkauf funktioniert hat, klappte dies meistens erst nach jahrelangem Hin und Her. Dann aber wurden nicht selten aus vergammelten Bahnhöfen Schmuckstücke. Im bayerischen Landsberg am Lech verströmt ein liebevoll restaurierter "Bürgerbahnhof" italienisches Flair. In Brake an der Unterweser soll die Station, ein Jugendstilgebäude am Rande der Innenstadt, nach 16 Jahren des Verfalls nun zum Rathaus umfunktioniert werden. Bahnhöfe hätten noch immer eine Doppelfunktion, sagt BahnStadt-Experte Neumann: als "Tor zur Stadt" und als "Tor zur Bahn". Stadtplaner versuchten deshalb, Verkehrsanlagen, Gebäude und Freiflächen zu einem "Bahnhof aus einem Guss" zu formen - "mit unterschiedlichsten Funktionen". Bahnhöfe und ihr Umfeld seien "heute nicht nur für Reisende da".

Auch Bürgermeister Ralf Kunze aus Brand (Dahme-Spreewald) wünscht sich, dass der kaputte Bahnhof, in dem Schwamm und Fäulnis hausen, endlich neu ersteht. An den Bahnsteigen selbst wird derzeit kräftig gebaut, sie bekommen behindertengerechte Zugänge. Auf dem Vorplatz entstehen Parkplätze. Brand ist klein, aber nicht irgendeine Haltestelle in der Lausitzer Provinz. Viele Berliner steigen hier vom Zug in den Shuttlebus um, der sie zu der riesigen Freizeit- und Badeanlage "Tropical Islands" bringt. Nun wartet Bürgermeister Kunze ungeduldig auf ein Gespräch mit dem Investor, der bei der Karhausen-Auktion den Bahnhof Brand für 5500 Euro ersteigert hat.

In Caputh-Geltow bei Potsdam gibt es ebenfalls große Pläne. Dort hat der Privatier Lothar Hardt den seit Jahren leerstehenden Bahnhof aus dem Jahr 1905 erworben. Auch er musste darauf lange warten. Der millionenschwere Investor, der in Caputh am Schwielowsee bereits andere kulturhistorische Gebäude besitzt, will aus dem roten Backsteingemäuer mit den Graffiti-Schmierereien und den kaputten Scheiben einen "Kulturbahnhof" machen - mit Ausstellungsräumen, Gastronomie und Ateliers im Obergeschoss. Die ehemalige Stückguthalle soll zum Veranstaltungssaal umgebaut werden. In alten Schlafwagen sollen Gäste übernachten.

Der erste Kulturtempel mit Gleisanschluss in Brandenburg wäre das allerdings nicht. Die Gemeinde Joachimsthal (Landkreis Barnim) hat ihr von der DB verlassenes Bahnhofsgebäude kurzerhand in ein Hörbuch-Museum umfunktioniert. Statt auf dem zugigen Bahnsteig können die Reisenden ihre Wartezeit nun dort vertreiben. Der Bahn kann es recht sein, ihre Verspätungen werden dort kaum noch wahrgenommen.

© SZ vom 23.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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