Contra: Kritik an Wirtschaftspolitik:Europas Weg ist richtig

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Exporteur Deutschland: Eine Arbeitsmarktreform hat hierzulande Wunder gewirkt. (Foto: dpa)

Niedrige Inflation und das geringe Wachstum bedeuten nicht, dass Europa nun für immer vor sich hinsiecht. Es sind unschöne Begleiterscheinungen eines notwendigen Gesundungsprozesses.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Nein, Jacob Lew hat nicht recht. Anders als der Minister glaubt, sind die niedrige Inflation und das geringe Wachstum in der EU keineswegs die Vorboten eines ewigen, von engstirnigen Sparhanseln verursachten Siechtums. Sie sind vielmehr unschöne Begleiterscheinungen eines zwar langwierigen, aber notwendigen Gesundungsprozesses. Man erinnere sich an die Agenda 2010, die wegen zunächst explodierender Arbeitslosenzahlen jahrelang als Fehlschlag galt. Heute weiß man: Hätte die rot-grüne Koalition die Reform des Arbeitsmarkts - und auch die vorangegangene Steuerreform - unterlassen und stattdessen den Wunderheiler Lew bestellt, stünde Deutschland heute nicht an der Spitze, sondern am Ende der europäischen Wirtschaftsliga.

Lews Rezept für die EU lautet vereinfacht gesagt: Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Schleusen nur weit genug öffnet, und wenn gleichzeitig die Bundesregierung so viele Milliarden wie möglich auf Pump investiert, dann wird daraus schon Wachstum entstehen. Das stimmt sogar. Die entscheidende Frage ist nur: Was für ein Wachstum wäre das?

Die Antwort ist keine akademische, sie lässt sich besichtigen. Etwa in Spanien, wo der Bauboom der Nullerjahre Straßen hinterlassen hat, die nirgendwo hinführen, Brücken, die nichts überbrücken und Flughäfen, von denen niemals ein Jet starten wird. Natürlich kann man das wiederholen. Man kann auch mit dem Füllhorn durch Griechenland ziehen und das alte System aus Miss- und Vetternwirtschaft wiederbeleben. Oder man schaufelt Geld nach Süditalien, wo es dann Mafia-Clans unter sich aufteilen. Aber noch einmal: Wäre das sinnvoll? Oder ist es nicht vielleicht doch vernünftiger, die Ursachen von Misswirtschaft und Wettbewerbsschwäche zu beseitigen und damit die Basis für eine langfristig tragfähige Wirtschaftsentwicklung zu schaffen?

Lews Konzept funktioniert nicht

Hier hilft ein Blick nach Japan, für das Lews Wort vom "verlorenen Jahrzehnt" ja geprägt wurde. Warum also kämpft Tokio seit 20 Jahren mit Stagnation und Deflation? Weil die Regierung einen strikten Sparkurs fährt und ein Trupp ultraorthodoxer Hochzinspolitiker die Notenbank führt? Falsch. Richtig ist: Seit Mitte der Neunzigerjahre türmt Japan Jahr um Jahr Budgetdefizite von bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, die Gesamtverschuldung hat mittlerweile fast 250 Prozent erreicht. Das ist Grusel-Griechenland mal anderthalb! Ebenso lange liegt der Leitzins praktisch bei null. Obwohl also besagte Schleusentore seit zwei Jahrzehnten sperrangelweit offen stehen, wird das BIP Ende 2014 unter dem Niveau von 1994 liegen. In China, nur zum Vergleich, hat sich die Wirtschaftsleistung im selben Zeitraum verzehnfacht.

Der Grund für die Endlosmisere ist, dass Japan die wahren Probleme nur halbherzig anpackt: die vielen faulen Kredite nach dem Platzen der Immobilienblase, die allgemeine Lähmung nach dem Verlust der technologischen Weltmarktführerschaft, die Demografie-Zeitbombe. Im Grunde hat der US-Finanzminister mit dem umgemünzten Wort vom "verlorenen Jahrzehnt" ein Eigentor geschossen: Japan ist das Paradebeispiel, dass sein, Lews, Konzept nicht funktioniert.

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Lieber mal vor der eigenen Türe kehren

Nur wer akzeptiert, dass ohne Strukturreformen alle Wachstumsbemühungen nichts sind, kann fragen, welchen zusätzlichen Beitrag die Geld- und die Finanzpolitik leisten können. Klar ist: Die Pläne der EZB für ein gigantisches Programm zum Kauf von europäischen Staatsanleihen, im Fachjargon "Quantitative Easing" (QE) genannt, würde der griechischen oder der spanischen Wirtschaft zunächst nichts bringen, gar nichts. Allenfalls über den sehr weiten Umweg eines sinkenden Wechselkurses könnte QE wirken.

Und die Finanzpolitik? Richtig ist, dass es in Europa in puncto Infrastruktur, Bildung und schnelles Internet Investitionsbedarf gibt. Hier steht auch und gerade Deutschland in der Pflicht, mehr zu tun - ohne allerdings die mühsam erreichte, so viel Vertrauen stiftende Haushaltsdisziplin wieder aufzugeben. Wer im Übrigen einmal einen Blick hinter die blinkende Fassade von Apple, Google und Co. in den USA wirft, wird auch dort ein Land mit Modernisierungsbedarf entdecken. Ja, mehr noch: Wenn Deutschland eine Investitionslücke aufweist, dann tut sich in Amerika ein wahrer Investitionskrater auf.

Vielleicht wäre es für die Weltkonjunktur insgesamt am nützlichsten, wenn alle Beteiligten weniger dem jeweils anderen Ratschläge erteilen würden und dafür mehr dort kehrten, wo sie es am einfachsten könnten: vor der eigenen Tür.

© SZ vom 14.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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